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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin
Autoren: Julya Rabinowich
Vom Netzwerk:
Weltbild GmbH" generiert. ©2012

»Können Sie mir vielleicht sagen, wer diese Nastja ist?«
»Meine Freundin.«
»Und wie lange kennen Sie ihre Freundin schon?«
»Sehr lange.«
    4
    Ich habe immer schon auf Rituale aller Art gepfiffen. Mutters Teezeremonien mit unserem blau-weißen Teeservice aus hauchdünnem Gschel-Porzellan, mit ihren Teegläsern in silbernem Spitzenwerk und dem immer brennend heiß anlaufenden filigranen Griff, den man nur unter Schmerzen anfassen konnte, mit dem Tischtuch und den Marmeladeschälchen habe ich unterlaufen, indem ich in unbeobachteten Momenten die Kanne griff und den geschwungenen Schnabel mit meinen Lippen umschloss und aus der Kanne trank, in gierigen Schlucken, die mir den Hals versengten. Das war eine Herausforderung: vor ihr zu trinken, ohne erwischt zu werden. Aus der Teekanne trinken. Ohne Tasse.
    Dabei in die blaue Teekanne hineinblicken wie in einen Brunnen.
    Das Auge blinzelt im Dunkeln zurück.
    In Nastjas Stadtwohnung schlich ich mich dann nachts in die Küche und trank den Tee der anderen Mitbewohner, trank heimlich ihre Milch, trank einfach aus den Flaschen, in denen sie im Kühlschrank aufbewahrt wurde, wischte die Lippenstiftränder vom Glas, biss Kuchen an.
    Nastja hatte ständige Angst, meinetwegen in Verdacht zu geraten, Ärger zu bekommen, den begehrten Platz zu verlieren, auf den sie zwar durch ihr Studium Anrecht hatte, dessen Verlängerung nach Studienabschluss aber vom Wohlwollen der Behörden abhing. Sie hatte einfach nicht genug Geld, um für längere Sicherheit im Amt zu sorgen, und war immer wieder auf ihr kindliches Äußeres und ihre flehenden Augen angewiesen, um den Vertrag zu verlängern.
    »Was tust du denn da«, zischte sie mich an, wenn ich wieder mit füchsischem Ausdruck im Gesicht über den langen Gang an der Wand entlangschlich, Schokoladereste in den Mundwinkeln. Am Gang roch es immerzu nach angebranntem Essen, Rauch und Speck und dreimal in der Woche nach Kohl, den die Dicke im Nebenzimmer zu Rouladen verarbeitete. Der Gang zog sich als Lebensader, die alle Zellen des sich immerzu wandelnden WG-Organismus miteinander verband, durch die riesige Wohnung.
    Badezimmer, Küche und vier Zimmer links sowie fünf Kabinette rechts. Menschen zogen ein und aus, manchmal war die Wohnung deutlich überfüllt, vor allem dann, wenn sich Paare scheiden ließen und die neuen Lebenspartner in die weiterhin gemeinsamen Räume einzogen. Manchmal gab es dann Crescendo, Mord und Totschlag. Dann verringerte sich die Zahl der Bewohner wieder. Oft nur vorübergehend, bis die Verletzten wieder aus den Spitälern in häusliche Pflege entlassen wurden. Manchmal kamen in solchen Fällen dann noch die pflegenden Verwandten hinzu. Manchmal war man also wohnquadratmeterflächenbezogen besser dran, den Expartner einfach hinter seiner Trennwand aus weißen Leintüchern in Ruhe zu lassen, um die gesamte Wohnsituation nicht zu gefährden.
    »Ich lebe mich ein«, sagte ich dann.
    »Denk doch an mich«, flüsterte Nastja, die Hand an der Türklinke zu ihrem kleinen Kämmerchen. »Du kannst immer nach Hause. Wenn ich rausfliege, kann ich nirgendwohin.«
    Nastjas Eltern wollten seit Beginn ihres Studiums nichts mehr mit ihr zu tun haben, der Vater Alkoholiker und die Mutter vor allem seine Frau und weniger Nastjas Mutter. Die Tochter hatte sie um ein zusätzliches Einkommen als Näherin betrogen. Mit etwas Verwunderung beobachtete Nastja meine wiederkehrenden Versuche, mich von meiner Mutter zu entfernen, und das wie das Amen im Gebet wiederkehrende Zurückprallen auf sie.
    »Du fliegst nicht raus«, flüsterte ich zurück, »du fliegst nicht raus, und wir werden noch weit kommen.«
    Sie blickte mich zweifelnd an.
    »Wirklich?«
    »Versprochen«, sagte ich und drückte mit klebrigen Diebesfingern ihre Hand auf der Klinke hinunter und öffnete die Tür und drängte mit meinem Körper den ihren über die Schwelle. Unsere Körper waren lernfähig, biegsam, robust.
    Bald darauf verschaffte ich Nastja ihre erste Hauptrolle, und ihr Vertrauen in meine Worte wurde auf beeindruckende Art und Weise in Stein gemeißelt. Ich verschwieg ihr, dass ich mich erfolglos bei derselben Produktion um die Aufgabe der Regieassistenz beworben hatte. Mein Schweigen war so viel wert wie meine Worte, und ich genoss es. Nastja war bereit, mir blind zu folgen, als persönlicher Lemming der Lemmingkönigin, und ich brauchte ihre Ergebenheit, um nicht zu verzweifeln. Ich hatte ja, im Unterschied zu ihr,
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