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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin
Autoren: Julya Rabinowich
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klimpernd in den Schoß, und ich öffne die Augen wieder und sehe die zwei kleinen Zwanzig-Cent-Münzen verständnislos an. Es dauert lange, bis ich begreife.
    Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012

»Erzählen Sie mir doch einmal von Ihrer Mutter.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Was Ihnen als Erstes einfällt.«
»Mir fällt nichts ein.«
»Machen Sie die Augen zu und erzählen Sie mir, was Sie als Erstes sehen.«
    5
    Die Hände ineinandergemengt in die Hände der anderen Kinder und ins feuchte Erdreich, in die dunklen, langgezogenen Pfützen der Dorfstraße nach dem Regen, in den Schlamm, den wir durch unser ekstatisches Wühlen darin erzeugt haben, keine weiche Masse mehr, die an Ton erinnert, sondern feiner, sandiger Brei mit glänzenden Partikeln. Die Hände der Kinder und auch meine warm, glatt, gemeinsam, endlich aus der Sauberkeit meines Elternhauses herausgelöst, vereint mit all den anderen Ziegenhütern und Gänsetreibern des Dorfes. Wir schreien, wir lachen, wir stoßen uns um und wälzen uns im Dreck, panieren uns mit Sand, der eine goldbraune Schicht um die Schlammflecken auf unsere goldgebräunte Haut stäubt wie Schmetterlingsflügel, warmes Wasser spritzt unter unseren Fingerkuppen hervor und sprenkelt allen ohne Ausnahme Sommersprossen in die Gesichter, und wir sind endlich alle ein großes, sommerlich unbekümmertes, lärmendes Wesen, zehnmal so groß wie die Erwachsenen und zwanzigmal so laut.
    Ich fühle, wie ich mich in diesem heißen lärmigen Ganzen auflöse, aber nicht untergehe, die Schreie entweichen leichter aus meinem Mund, wenn meine Stimme in all den anderen versteckt und von ihnen verstärkt bleibt.
    Ich kneife die Augen zu, das Wasser spritzt mir auf den Oberkörper und ins Gesicht, und die Haut des Nachbarmädchens, das ich nur vom Sehen kenne, weil ich nicht aus unserem gut umzäunten Haus herauskommen darf, um mich mit dem Pöbel zu vermischen, streift meine und ist Samt.
    Umso unerwarteter trifft mich der Schlag, aus dem Hinterhalt, von hinten, gezielt und kräftig auf meinen Hinterkopf mit flacher Hand, weit von unten nach oben ausholend.
    Mein Schrei bekommt einen Sprung. Das Unterkiefer schlägt mit voller Wucht auf das obere, die Zähne aufeinander, der Laut, den sie dabei erzeugen, klingt mechanisch zwischen meinen Ohren nach wie das Rattern der Nähmaschine meiner Mutter, wenn die dicke Nadel plötzlich auf ein Hindernis im Stoff stößt, auf einen Knopf oder Teile eines Reißverschlusses, wenn sie Kleider repariert.
    Die Stimmen verwischen kurzfristig zum Rauschen, das zum salzigen Geschmack in meinem Mund gerinnt.
    Minuten später sitze ich an unserem Küchentisch, während sie mich schweigend mit zu heißem Wasser und schnellen Bewegungen reinigt, und spucke Seifenlaugenreste in ein blutiges Taschentuch. Ich weine nicht. Ich sammle die ekelhaft schmeckende Flüssigkeit in meinem Mund, schwenke sie einmal von links nach rechts und wieder zurück und lasse sie ins rosige Papier tröpfeln, während die Oberfläche des Handtuchs aus grob gewebtem Stoff meine Haut von der braungoldenen Schicht befreit und gleichzeitig neue, flammende Flächen an meiner Brust anbringt, die hinter den Bewegungen meiner Mutter aufleuchten, als würde sie mich bemalen. Ikonenrot.
    Meine Schwester steht reglos in der Tür, angelehnt an den breiten Holzrahmen mit dem splitternden Lack darauf. Helles Haar auf Leinenkleidchen, weiße dünne Hand auf weißem Lack. Schatten unter ihren Augen, hinter ihr im Flur. Kühler Lufthauch der dicken Steinwände vom Keller dringt in die Küche, deren Fenster weit geöffnet sind. Draußen ein mächtiger Lindenbaum, begossen mit Sonnenflecken, und hereingewehtes Kindergeschrei vom Dorfplatz.
    Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012

»Und Ihr Vater?«
»Vielleicht war er politisch aktiv. Vielleicht ist er auch nur vor ihr geflüchtet.«
»Wissen Sie etwas über die Beziehung Ihrer Eltern?«
»Nur, dass er eine Bibliothek hatte und sie immer noch auf ihn wartet.«
    6
    Ich schlich mich gerne heimlich in die Bibliothek meines Vaters, sein größtes, sein offensichtlichstes und gleichzeitig sein geheimstes Zeichen an mich. Ich lehnte mich dort an die Regale, Rücken an Rücken mit seinen Büchern. Altes Leder, Staub und die dicken bodenlangen Vorhänge, die, wenn man die Nase fest hineindrückte, eine schwache Note Pfeifenrauch freigaben, ich atmete hinein, um sie zu wärmen, und sog die Luft mit
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