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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin
Autoren: Julya Rabinowich
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Auswahl gekommen, hatte die Rolle aber noch nicht. Wir mussten diese unsichere Zeit irgendwie überbrücken, ohne gezwungen zu sein, meine Mutter aufzusuchen.
    Wir waren stolz auf unsere Entscheidung.
    Wir konnten leben, wie wir wollten. Wir hatten Kraft.
    »Ich kann dort üben«, sagte sie, und ich sah keinen Grund, sie davon abzuhalten, obwohl mir klar war, dass diese beiden Rollen nichts miteinander zu tun haben würden.
    *
    Ich habe Nastja in unserer Souterrainwohnung eingesperrt, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommt und wirklich im Bett bleibt. Damit ich endlich Pause machen kann, wenn sie wieder gesund ist. Ich bin hundemüde. Ich habe kein Fieber, im Unterschied zu ihr, meine Fieberlosigkeit bedeutet Verantwortung. Ich arbeite seit drei Nächten durchgehend.
    Ich hole Luft, aber sie lässt sich nur schwer holen, ich ziehe richtig an, als ob ich den Rauch einer Zigarette in meine Lungen holen wollte, und nachdem ich einige Male diese Luftzigarette malträtiert habe, wird mir so richtig schwarz vor Augen, und ich stütze mich an die Wand des Hauses neben mir.
    Es ist jetzt bereits heller Morgen, die Nacht ist unwiederbringlich verschwunden, und mit ihr unsere Miete, ich fluche, ich beiße in meine Lippe. Der Platz um den Westbahnhof, der im Schatten des gewaltigen Baugerüstgerippes liegt, wird immer geschäftiger, die U-Bahnen spucken in kurzen Intervallen Menschen aus, die in Büros, Geschäfte, Arztpraxen und Kaffeehäuser strömen, auch sie müssen verdienen, jeder muss verdienen, und alle haben sie bekommen, was sie verdient haben, und das treibt sie nächsten Monat erneut aus ihren Wohnungen und warmen Betten. Ich muss nach Hause, ich muss ins Bett, ich bin so leer, dass ich fürchte, mich aufzulösen. Der Platz dreht sich erneut, ich bleibe wieder stehen.
    Halte meine Hand mit den abgespreizten fünf Fingern in die Wand gedrückt und spüre den Mauerputz und spüre Bewegung dahinter, als ob unter der Mauerhaut Adern wären, ein Blutstrom, etwas, das pulsiert und lebendig ist, wärmer als meine Haut und stärker als mein Puls. Ruhig, behäbig, ein sehr sehr großes Wesen, weit größer als eine Kuh und größer als ein Elefant.
    Ich lege meine Wange an die Hauswand, ich drücke mich an sie, und da ist nichts mehr, kein Herzschlag, keine Bewegung, nur kalter Putz, der in mein Gesicht bröckelt.
    An mir vorbei gehen die Passanten zügig, dynamisch, flexibel, so wie man sie bestellt hat. Ich muss lachen. Die Straße dreht sich, die Wand, der Himmel, ich verstehe nicht, warum ich auf einmal in den Himmel blicke, die Sonne scheint und blendet mich. Ich schließe die Augen, ein hohes Geräusch in meinen Ohren, und es ist kurzfristig wieder Nacht. Ich und die Dunkelheit und sonst niemand.
    Ich erwache in den Morgen hinein, weil jemand über meine Füße gestolpert ist, ein Schulkind, das nicht auf seinen Weg achtet, die schwere Schultasche biegt den kleinen Rücken durch, und der Junge krallt sich in die Lederriemen, um ein Gegengewicht zu bilden. Er sagt nicht Entschuldigung, weil er selbst so erschrocken ist. Er macht große Augen und sein Mund, aus dem nichts herauskommt, steht offen, er flüchtet in die U-Bahnpassage hinab, und mir wird klar, dass ich am Boden liege, während all diese Fremden an mir in einem langen Strom, der mir elegant ausweicht, vorüberziehen. Ich ziehe mich hoch und rutsche auf dem Hintern an die Hausmauer zurück. Mein helles Kleid, denke ich. Einer der halterlosen Strümpfe ist zerrissen, das war er aber vielleicht schon vorher, ich streiche den Saum des Kleides darüber. Ich will nicht, dass man den Strumpfansatz sieht, nicht wegen meiner schlaffer werdenden Schenkel, das wäre egal, aber wegen der Schulkinder. Aufstehen funktioniert nicht, meine Arme sind zu schwach, und ich fluche erneut, ich kann mir das nicht leisten, und ich mache den nächsten Versuch und ziehe mich mit aller Kraft bis zur Hausmauer zurück und lehne mich an. Lege den Kopf nach hinten und schließe die Augen wieder. Höre das mannigfaltige Aufsetzen vieler Füße auf dem Asphalt, Stöckelschuhe, beschlagene Herrenschnürer, das leise Schleifen von Turnschuhen – eine eigenartige Musik, ein Stakkato der Morgenstadt, ein kleines Konzert für Nachteulen, wie ich eine bin.
    Ich habe furchtbaren Durst. Meine Lippen schmecken nach Meer.
    Sie fluten und schleifen und stöckeln rastlos an mir vorüber, ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, vielleicht viel, vielleicht wenig. Irgendwann fällt mir etwas
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