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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin
Autoren: Julya Rabinowich
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Moor, nach Tümpeln voller Entengrütze, die im Halbdunkel glänzen. Ich lasse mir ein Erdfell wachsen, das mich schützt und wärmt, so wie die Hasen das tun und die Füchse und die anderen Tiere, die mich umgeben, ich jage mit ihnen und ich trinke Wasser aus den gleichen Stellen. Manchmal töte ich und manchmal setze ich kleine Vögel, die aus dem Nest gefallen sind, wieder hinein. Wenn die Eltern sie nicht annehmen, kann ich sie immer noch holen.
    *
    Kurz bevor die Sonne aufgeht, trete ich aus dem Wald hinaus. Die Krähen regen sich nicht, keine frischen Spuren der Tiere im Schnee. Vollkommene Windstille. Es ist so still, als ob jede Bewegung geendet hätte.
    Der Golem wartet am Waldrand auf mich. Die Sterne verschwinden langsam hinter seinem Rücken am Himmel, so als würde alles, was ich kannte, von ihm ausgelöscht. Die Nacht schwindet um uns in ein heller werdendes Blau, ein schmaler Streifen roten Scheins am Horizont. Vor uns ein riesiges Feld, es füllt den gesamten Blick, es scheint endlos wie die Fläche des Wassers, ein Erdmeer. Ich kneife im heller werdenden Licht die Augen zusammen, runde Objekte scheinen zwischen den Erdwellen zu liegen. Im Halbdunkel kann ich nichts genau erkennen. Wir werden das Feld durchqueren, und dann weiß ich alles. Er wartet lange, als ob er sich sammeln würde, und ich stehe gelöst neben ihm und spüre keine Ungeduld, nur eine Ruhe, die der Ruhe des Waldes hinter uns entspricht. Als der schmale Streifen breiter wird, leuchten die Objekte in der aufgehenden Sonne, und er setzt in diesen ersten Strahlen den ersten Schritt auf das Feld, und ich folge. Die Erde ist weich unter meinen nackten Füßen, angenehm. Ich drehe mich nicht mehr um, der Wald tritt zurück, als hätte es ihn nie gegeben, während wir gehen und gehen, der Umriss des Golems flammt auf wie die Erde vor mir, als die blutrote Sonnenscheibe sich über den Rand des Horizonts erhebt, und in ihrem Licht sehe ich, dass die runden Gegenstände, die unter meinen Füßen liegen, keine Kürbisse sind, wie ich dachte, sondern Köpfe, Männerköpfe mit geschlossenen Augen, manche liegen seitwärts auf der Erde, manche mit dem Gesicht dem Himmel entgegengereckt, von einigen ist gerade einmal der Scheitel zu erkennen, während bei anderen bereits Schultern und Armteile aus der Erde ragen. Eine Reihe, dahinter die nächste, in unregelmäßigen Abständen. Sie wachsen aus den Feldern, bereit, über den Leib, der sie gebar, herzufallen, in ihm nach Schätzen zu wühlen und nur Exkremente und verfaultes Gemüse zu finden. Manche sind jung, andere schon alt, sie unterscheiden sich in Haut- und Haarfarbe kaum von der Erde, aus der sie wuchern.
    Ich bemühe mich, ihnen nicht in die Gesichter zu steigen, ich will nicht wissen, ob sie kalt sind oder Körpertemperatur haben. Der Golem wendet sich noch einmal nach mir um und deutet mir, ich weiß, dass ich jetzt zurückblicken darf, und gleichzeitig weiß ich, dass dieses Feld sich rund um uns nun nach allen Seiten erstreckt. Jeder meiner Schritte bricht in eine neue Landschaft.
    *
    Diana, Diana, ich heiße Diana, sage ich mir vor, immer und immer wieder, das ist mein Mantra, das mich begleitet, ins Finstere hinein, ins Tiefere, das leicht modrig, aber sehr vertraut riecht, es ist eine Heimkehr voller Umarmung.
    Diana darf man nicht vergessen, jeder, der nach Betreten des Erdreiches seinen Namen vergisst, geht darin verloren.
    Ich gehe weiter. Ich gehe tiefer. Tiefer. Tiefer.
    Ich gehe. Ich gehe.
    Gehe.
    Gehe.
    Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012

Julya Rabinowich
    Julya Rabinowich, geboren 1970 in St. Petersburg, lebt seit 1977 in Wien, wo sie auch studierte. Autorin (zahlreiche Theaterstücke), Malerin und Simultandolmetscherin. Im Standard erscheint wöchentlich ihre Kolumne Geschüttelt, nicht gerührt . Für ihren Debütroman Spaltkopf (2008) erhielt sie u.a. den Rauriser Literaturpreis, und auch die im Februar 2011 erschienene englische Übersetzung des Romans ist ein vielbeachteter Erfolg. Bei Deuticke erschien 2011 auch ihr Buch Herznovelle .
      
      
    Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012

Daten, Fakten, Jahreszahlen
    1970 in St. Petersburg geboren
    1977 entwurzelt & umgetopft nach Wien
    1993–1996 Studium an der Dolmetschuniversität Wien
    1998–2006 Studium an der Universität für Angewandte Kunst Wien
    Lebt als Autorin, Malerin und Simultandolmetscherin (Integrationshaus und Diakonie
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