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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin
Autoren: Julya Rabinowich
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muss für alle gesund bleiben, damit er zu mir zurückkehren kann. Der Golem muss zu mir zurückkehren, aber ich kann ihn offensichtlich nicht zwingen. Die Zeit wird knapp.
    *
    Der Himmel zieht schnell zu, graue Flächen greifen ins Blau und dämpfen das Licht am frühen Nachmittag. Die Luft riecht feucht und nach Meer. Ich zähle mein verbliebenes Geld, das ich in dem fremden Täschchen gefunden habe, auf der Börse ist ein fröhliches Katzengesicht aus Leder angebracht, das mich höhnisch angrinst, ich reiße es an der dicken roten Nase hoch und wühle. Das Kind hat entweder nicht viel mitbekommen oder alles bereits ausgegeben, aber es könnte wenigstens für mich reichen. Ich muss meine Schwester erreichen. Oder meine Mutter. Ich erreiche mich nicht mehr, also muss es jemand anderes werden, schnell, schnell. Ich gehe planlos die gewundenen Gassen hinauf und hinunter, bis ich eine silberne Telefonzelle finde. Ich lasse meine Münzen aufmerksam Stück für Stück ins Innere des Apparates fallen, höre dem mechanischen Klicken zu, hebe den glatten Griff des Hörers, drücke die Oberfläche an mein Ohr. Höre die Signale, hebe meine Hand, um sie wie gewohnt auf dem Tastenfeld tanzen zu lassen, und kann mich nicht mehr an die schlafwandlerisch eingeprägten Bewegungen erinnern, sooft ich mich auch bemühe. Ich klaube mit zittrigen Händen die Münzen aus dem Apparat und werfe sie hysterisch wieder und wieder hinein. Versuche es nochmals, und dann noch vier weitere Male, immer vergeblich, bis meine letzte Münze mit einem endgültigen Klicken im Inneren des Apparates verschwunden ist und auf der Anzeige eine Null blinkt, während meine Finger taub und kalt und gleichzeitig schweißnass werden. Es beginnt zu schneien.
    *
    Ich überwinde die gläserne Trennwand, die die Straße von einem lichtdurchfluteten, musiküberschwemmten, drei Stockwerke hohen Reich abschirmt. Sie gleitet wie von Zauberhand zur Seite. Der Portier sieht mich prüfend an und lässt mich in einer fröhlich schnatternden Menge junger Mädchen passieren. Die Luster sind hell hier und der Boden Marmor. Die Rolltreppen bewegliches Gold mit geschmacklosen Reliefs an den Seiten, die wohl ägyptische Pharaonen darstellen sollen.
    Geschichte für Geschichtslose. Kultur für Kulturlose. Gier für Habenichtse. Alles das nicht für mich. Nicht für mich.
    Ich widerstehe der Versuchung, in den Mistkübeln im Eingangsbereich nach Essen zu graben. Man wird mich dabei erwischen und hinausjagen, und draußen schneit es in nassen, schmelzenden Flocken. Die Gehsteige sind grau und braun und weiß gesprenkelt mit Matsch, der durch die Seitennähte in die Stiefel dringt, bis ich meine Zehen nicht mehr spüre, aber diese in Eiswassersockendreck eingelegten Zehen sind mein geringstes Problem. Aus dem Untergeschoß dringen Gerüche nach Backwaren hinauf aus dem Seitentrakt, wo sich die Kosmetikabteilung befindet, Düfte nach falschen Äpfeln und Kunstrosen. Alles ist Lüge, aber ich will mich so gerne wieder täuschen lassen, wie damals im Spital. Das Haus erinnert mich an das Gebäude, in dem es immer warm war, immer satt und ruhig. Wenigstens kurzfristig. Wenigstens ein wenig.
    Der Brotgeruch macht mich sofort ungeduldig. Ich entferne mich von dieser Erinnerung an das, was wichtig ist. Steige auf der goldenen Rolltreppe luftig höher und höher. Die Musik ergießt sich über mich. Alles ist leuchtend. Ich gehe über das flüssige Gold und den weißen Marmor, eine Prinzessin, die aus ihrem Königreich entführt wurde und nun den Glanz ihres Hofes wiedererkennt, meine Schritte werden geschmeidig, elegant, ich gehe so selbstsicher und bestimmt, dass niemand sich an meiner armseligen Kleidung stößt. Ich wandere ziellos durch das Stockwerk, das mit geschmacklosesten Dingen angefüllt ist: Silberadler, riesige Porzellantiger, Kristallluster unterschiedlichster Übertreibung. Fahre weiter hinauf.
    Der dritte Stock beherbergt die Schlafzimmer. Doppelbetten mit hohem Himmel, mit Nachtkästchen aus Mahagoni, mit samtbezogenen Rückenlehnen, mit kleinen Messingknöpfen, die ein Karomuster hineindrücken, Löwenköpfe als Füße. Ich gehe über ein Bettenfeld, wie andere über Minenfelder gehen, vorsichtig. In Reih und Glied stehen diese Inseln der Ruhe in einem riesigen, verwirrend verwinkelten Raum, mal bunt bezogen, mal in reinem Weiß. In jedem zwei große, stützende Kissen, an die sich jeweils zwei kleine kindergleich anschmiegen. Es duftet nach Lavendelwasser. Seidentücher,
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