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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin
Autoren: Julya Rabinowich
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Meerwind bläst mir ins Gesicht, es riecht salzig und fischig, es riecht nach Frau, es riecht nach mir. Das Meer leckt an der Küste, höhlt aus, die Wellen schaukeln mich zurück in kindliche Übelkeit, mir ist so übel, wie mir damals im Auto des halbfremden Onkels gewesen ist, und ich muss wieder ausharren, ich muss warten, bis wir endlich da sind, ich hasse dieses Warten, Warten auf das Ende der Torturen, die mir andere aufzwangen, Warten auf die Möglichkeit, endlich aussteigen zu können, ich warte schon zu lange, ich will nicht mehr warten, ich mache mir nicht einmal mehr die Mühe, einen geschützten Ort zu suchen, um mich zu übergeben, und erbreche einen gelben feinen Strom ins Meerwasser, während mir die Gischt bis an die Stirn hochspritzt.
    *
    Ich sitze im verdorrten Gras, wie so oft schon sitze ich im Gras, und sehe den Besuchern des Forum Romanum zu, wie sie in ihre bezahlte Erfahrung von Altertum einziehen, schwatzend, Cola-Dosen werfend, uninteressiert, sie stinken nach Neuzeit und nach Wurst, sie sind laut und zeigen keinerlei Respekt vor dem, was hier einmal war, die abgebissenen Steinfinger der Säulen, die ins Nichts abbrechenden Triumphbögen mit ihren mannigfaltigen Geschichtsreliefs, die gebrochenen Zahnrücken der Marmorsteine. Das ganze Forum ist ein Relief der Geschichte.
    Ich sitze auf grünem, frischem Gras, mit meinen Fingern tief zwischen den Halmen bis in die Wurzeln getrieben, ich spüre die Erde zwischen meinen Nägeln, schmerzend unter die Haut dringen, ich will von ihr durchdrungen sein und sie durchdringen, wir sind Teil voneinander und werden uns nie mehr trennen. Sie und ich von gleichem schweren Blut, von gleichem lehmigen Fleisch, wie ich und sie und er, den ich suche, sogar hier noch zwischen Säulen und Ziegeln der alten Stadt suche ich ihn.
    Weit weg, über den ärmlichen Resten der Ruinen, bricht ein in der Kälte dennoch knospender Ast hervor. Sie ist stärker, ihre Lust zu überleben ist stärker als alles, sogar als die Zeit, darum bin ich wie sie.
    Beruhigend ist es für mich, auf die halbrunden Kuppeln der Zypressen zu blicken, sie erfüllen mich mit dem Versprechen der Erholung und der Regeneration, wenn sie es kann, so kann ich es auch. Die Touristen fotografieren, lustlos, die leeren dummen Kindergesichter vor dem Kolosseum. Ja wissen sie denn nicht, wie viele hier gestorben sind, unter munterem Gejohle von ihresgleichen, ihr Blut im Arenasand verspritzt, ihr Hirn auf Waffenschneiden und Tierzähnen? Wie können sie sich in dieser Kulisse verewigen lassen, Victory-Zeichen setzen, obwohl sie niemals, niemals den Kampf angetreten haben, im Unterschied zu mir, die die Arena unerlaubterweise immer wieder verlässt, auf Schleichwegen verschwindet und wiederkommt, das ist der Grund, weshalb ich es überlebe, mein Verschwinden und Wiederauftauchen, das nun von des Golems Verschwinden und Wiederauftauchen ins Lächerliche gezogen wird, ins Sinnlose, er verhöhnt mich, und ich bin kein weiser Mann und habe ihn nicht im Griff, obwohl er der einzige Schlüssel zum verborgenen Haus meines Vaters ist.
    Ich habe das kleine Ledertäschchen einer unaufmerksamen Schülerin an mich genommen. Noch habe ich mehrere Tage Zeit, bevor ich mich wieder auf den Weg mache, mein Weg führt mich in verschlungenen Pfaden durch Europa, Trampelpfade sind das, im Dschungel der Begebenheiten hinterlassen von Einzelwanderern wie mir, wir sind unsichtbar und allgegenwärtig, wir bestimmen eure Zukunft genauso mit, wie ihr die unsere, wir bestimmen Teile eures Lebens, eures Begehrens, eurer Gier und eurer Bedürftigkeit, wir pflegen euch und befriedigen euch und töten euch und nützen euch aus, so wie ihr uns ausnützt und befriedigt und tötet. Ihr dürft uns ungestraft ertränken, uns vergiften, uns erschlagen und verbrennen, während wir euch nur aus dem Hinterhalt anfallen dürfen wie wilde Tiere, und wenn wir dabei erwischt werden, werden wir wie wilde Tiere eingesperrt. Werdet ihr dabei erwischt, so vergisst man am besten eure Täterschaft, denn wir sind nicht nur wilde, sondern auch heimatlose Tiere, und Tiere sind Objekte und haben keine Bürgerrechte wie jene, die dem großen europäischen Haus zugehörig sind und dem großen Haus des Wohlstands.
    Genug nachgedacht, denke ich, das Denken hält ab vom Handeln, und wer nicht handelt, der stirbt. Ich stehe auf. Ich schaffe es, sage ich halblaut vor mich hin. Ich schaffe es, und ich muss gesund bleiben, ich darf mir hier nicht den Tod holen, ich
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