Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin
Autoren: Julya Rabinowich
Vom Netzwerk:
ansteigende Hügel und noch einen Wald dahinter.
    Er wird schon wissen, wohin es geht, sage ich mir. Ich habe ihm Anweisungen gegeben, und er hat sie zu befolgen. Ich zwinge mich also, nicht links noch rechts zu schauen, sondern auf seine Schultern, auf seinen Kopf. Wir gehen wieder sehr, sehr lange. Irgendwann beginne ich trotzdem, mich in der Gegend umzusehen. Rund um uns erstrecken sich immer noch Felder und kahle Büsche in schmalen Streifen dazwischen. Wir stehen neben der Landstraße. Weit und breit keine Menschenansiedlung zu sehen, es ist dunkel, es ist kalt, wir sind längst nicht mehr in Österreich.
    »Wohin hast du mich gebracht«, schreie ich ihn an.
    Er regt sich nicht, als würde er versuchen, mich zu täuschen, so zu tun, als wäre er ein unbelebtes Ding, das unnütz und absurd mitten auf der Straße steht, als wäre er nicht meiner und zu meinen Diensten, als wäre ich allein. Ich fühle wilden Hass in mir aufsteigen, ich schreie, bis meine Stimme bricht, und als er immer noch nicht reagiert, trete ich mit aller Kraft nach ihm und erwische ihn am linken Oberschenkel, mein Fußabdruck bleibt auf seiner Oberfläche zurück wie der erste Schritt des Menschen auf dem Mond.
    Er hebt abwehrend den mächtigen Arm. Ich denke nicht daran, ihn zu schonen.
    »Du gehörst mir«, schreie ich. »Du sollst für mich da sein!«, während ich mit Füßen und Händen auf ihn einschlage, bis meine Knochen schmerzen, meine Schläge werden von der glatten Oberfläche absorbiert, er schluckt jeden Gewaltausbruch, jedes Geräusch, es ist gewaltsam still um uns, während ich tobe.
    Ich werfe mich auf ihn, er macht einen schwankenden Schritt rückwärts, sein Bein hebt und senkt sich wieder mit Getöse auf die Landstraße, ich sehe erschrocken zu, wie die Oberfläche der Straße und seine Fußsohle aufeinandertreffen, ich fühle die Erde erzittern, Staub wirbelt auf, und als er sich wieder senkt, ist der Golem bereits bis zum Knie in ihr versunken, Teile des Lehms lösen sich aus seinen mächtigen Oberschenkeln, bröckeln ab, er verliert zusehends seine Form, der Oberkörper neigt sich schräg, der Kopf verschwindet zwischen den meterbreiten Schultern, ich schreie, ich greife nach ihm und spüre die lehmige Erde nachgeben zwischen meinen Fingern, sie klebt in meinen Händen, fällt in weichen riesigen Brocken zu meinen nackten Füßen, feine Sandströme laufen an dem formlosen Kegel herab, der vor kurzem noch sein Leib gewesen ist. Ich schreie wieder.
    »Verlass mich nicht«, schreie ich, und als ob ich damit die Zerstörung noch beschleunigt hätte, bricht der übrig gebliebene Brustkorb vollends auseinander und zerfällt zu zwei Haufen, die als Geröll mitten auf der Landstraße liegen bleiben, als hätte mein Schrei den ersten Sonnenstrahl und damit das Ende des Zaubers herbeigekräht.
    *
    Ich irre unter dem sternklaren Himmel, der unbekanntes Gebiet erleuchet, und das hilft mir nicht, nichts hilft mehr, solange ich ihn nicht wiederfinde. Er gehorcht mir nicht länger. Er hat mich nicht für würdig befunden, nach Hause zurückzukehren. Ohne ihn komme ich niemals mehr heim, und alle werden sterben.
    *
    Zwischen Nacht und Morgen schleiche ich mich in den Hinterhof eines Bauernhofes, öffne vorsichtig die Holztür des Hühnerstalles, fahre kurz zusammen, weil sie knarrt, aber kein Hund schlägt an, keine Schritte, kein Licht im Fenster, und ich lasse den vom täglichen Zugreifen glattpolierten Holzriegel los und schleiche mich ins Halbdunkel, die Hühner erwachen und werden unruhig, ich mache »husch, husch, husch«, aber sie kennen meine Worte nicht und lassen sich nicht befrieden, sondern geraten in hysterische Bewegung, ich trete nach denen in meiner Nähe und jage sie von ihren Nestern, packe die warmen Eier, gesprenkelte, braune Beute, an denen noch weiße Federn haften, und stopfe sie in meine Taschen, das letzte bricht und ich schlürfe es noch im Laufen aus.
    *
    Ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden und Tage ich nach ihm rufe, ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Was immer geschieht, er kennt den Weg, den ich vergessen habe. Ich muss überleben, bis ich ihn wiedergefunden habe, und ich versuche es mit all meiner Kraft. Ich entscheide, jene Wege einzuschlagen, die mich in die Städte zurückführen könnten. Ich werde dem Fluss folgen.
    *
    Ich stehe auf einem Steinvorsprung, unter meinen Füßen zieht eine riesige, trügerisch ruhige Wasserfläche dahin, das andere Ufer ist kaum zu erkennen. Die Bäume strecken
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher