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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin
Autoren: Julya Rabinowich
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Gangfenster gekippt, aber die Luft steht immer noch in dem niedrigen Vorraum, in dem wir sitzen. Wir haben die Tür zum Zimmer geschlossen, damit wir später noch gut schlafen können. Ein kleines Tiegelchen Haarfarbe genügt, um uns in eine Wolke zu hüllen, mit jedem Atemzug wird der Eindruck, wir würden uns in einer Chemiefabrik befinden, nachhaltiger und überzeugender.
    Meine Haare sind bereits unter einem Plastiksack verschwunden, zwischendurch tupfe ich die stinkenden Rinnsale, die ihren Weg beständig über meine Ohren, Stirn und Nacken suchen, mit einem zusammengeknüllten Stück Klopapier weg. Die Farbe juckt auf der Kopfhaut, aber man darf nicht kratzen. Wir teilen uns zwei Flaschen »Norwegisch Blond«, zuerst ist mein dunkler Nachwuchs dran, dann Nastjas ganzer Kopf, ihr ist es nie hell genug, obwohl ihre Spitzen weit oben bereits abbrechen, wenn man sie zu fest anfasst. Nastja wird oft zu fest angefasst.
    Die Menschen wollen Ähnlichkeiten finden zwischen ihnen selbst und uns, und wir kommen ihnen gerne entgegen und erblonden gehorsam und schmerzhaft.
    »Was glauben die Leute«, hebt Nastja wieder an, diesmal lauter, als fürchtete sie, dass ich sie nicht hören kann und nur darum schweige.
    »Halt den Mund«, sage ich und sie schaut mich mit weit offenen blauen Kinderaugen an. Sie ist so perplex über meinen plötzlichen Sinneswandel, dass sie wirklich nichts mehr sagen kann, sie braucht erstaunlich lange, um den Mund wieder zu schließen. Ich stehe auf und lasse die Skelettbürste, mit der ich eben noch ihr Haar in artige Strähnen geteilt habe, auf den Tisch fallen, ich gehe zum Wasserhahn gegenüber und drehe ihn auf und höre dem Geräusch des rinnenden Wassers zu.
    Nastja sitzt da und schaut mich an.
    »Schau her«, sage ich überflüssigerweise.
    »Schau ganz genau her.«
    »Du bist verrückt«, sagt sie plötzlich kaum hörbar.
    Für eine kräftige Stimme reicht ihr Mut nicht aus. Ich lache.
    »Du wolltest doch wissen, was die Leute denken. Schau her.«
    »Ich sehe nichts.«
    »Weil du zu dämlich bist. Schau genau her: Da kommt das Wasser herausgeflossen, hier trifft es auf den Grund der Abwasch, sammelt sich zu einem höheren Pegel und fließt wieder ab. Dazu ein leises Rauschen und Gurgeln.«
    »Du spinnst wirklich, Diana.«
    »Keineswegs. Das Wasser ist zu keinem Zeitpunkt verändert, nicht wenn es aus der Wasserleitung spritzt, nicht beim Aufprallen auf den Beckenboden, nicht beim Verschwinden im Ausfluss. Es ist immer dasselbe Wasser, ein großer Strom von sinnlosem Wasser. Genau das spielt sich in jedem Kopf ab, dem du da draußen begegnest. Du spiegelst dich vielleicht kurz in diesem Wasser, aber das ist völlig irrelevant, dein Spiegelbild wird nicht haften bleiben, weder dein Schicksal noch dein Gesicht, deine multipel wechselnde Identität ist völlig austauschbar, es geht nicht darum. Denk daran: Du verschwindest vierundzwanzig Stunden am Tag, jede Sekunde in diesem dunklen schmalen Abfluss, aus dem übrigens schon wieder deine Haare raushängen. Ich habe dir oft gesagt, dass du nach dem Haarewaschen deine verdammten Haare aus dem Abfluss klauben sollst.«
    Nastja glotzt. Ich nehme die Bürste und kehre damit an unseren Küchentisch zurück, der gleichzeitig unser Wasch- und Esstisch ist, wir haben nur diesen Vorraum mit Waschgelegenheit und Herd, dahinter das kleine Schlafkabinett, durchs Fenster sieht man eine Betonwand. Ich setze die Bürste vorsichtig auf Nastjas Kopf und drücke die Borsten dann mit einem Ruck fest in ihre Kopfhaut. Sie rührt sich nicht.
    Draußen sehe ich die Beine des Hausbesorgers, der mit einem großen Rechen das Laub zusammenkehrt, die Metallzähne verursachen ein gleichmäßiges Scharren, ein beruhigend wiederkehrendes Geräusch, das mich an den Garten meiner Mutter erinnert.
    Nastja hat eine Träne am äußersten Winkel ihres großen blauen Auges.
    »Na los«, sage ich. »Beweg deinen Arsch und putz es weg. Wir haben zu wenig Raum, um unabhängig voneinander zu sein.«
    *
    Nastja hat Fieber, ich koche ihr Tee, während ich sie bellend husten höre, das anschwellende Wüten des Wassers unter dem Emaildeckel kann das Geräusch nicht übertönen, obwohl der Deckel durch den Druck des Dampfes in Bewegung gerät und scheppert. Sie hustet, als ob sie die Reste ihrer Innereien krampfhaft zurückbehalten und nur das Kranke ausscheiden wollen würde, das Böse, aber das geht nicht, das ist keiner von uns je gelungen.
    »Leg dich hin«, sage ich, weil ich höre,
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