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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin
Autoren: Julya Rabinowich
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Mutter sich zu lange Zeit lässt und er froh ist, die Stille durchbrechen zu können.
    »Was?«, hake ich nach.
    »Wirst schon sehen«, sagt meine Mutter.
    »Ich muss aufs Klo«, füge ich hinzu.
    »Zuerst das Papier«, sagt sie.
    Der Onkel sieht meine Mutter an, beschließt aber zu schweigen, wie sie vorhin geschwiegen hat. Ich muss mich auf eine unbestimmte Wartezeit gefasst machen und krampfe meinen ganzen Unterleib zusammen. Ich verschließe alle meine Lippen fest und drücke den Hintern in den durchgewetzten Sitz hinein. Nach einer Weile spüre ich meinen Bauch nicht mehr.
    »Wann sind wir da?«
    »Bald.«
    »Bald« erweist sich als eine weitere halbe Stunde durch Wiesen und Felder, am Horizont taucht der Umriss eines Baukomplexes auf. Meterdicke Schornsteine ragen hoch. An ihren oberen Enden hängen dichte Rauchschwaden. Ich stelle mir die Pfeife meines Vaters genau so vor: riesenhaft über mir in den Himmel gebreitet mit langen Schlieren dunklen Rauchs statt Wolken. Statt die riesigen Hallen anzusteuern, biegen wir aber erneut auf einen Feldweg ab, und als ich gerade merke, dass wirklich nichts mehr geht, was Zurückhaltung anbelangt, befinden wir uns schon auf einer breiten, asphaltierten Straße.
    Wir halten an und ich stürze in die Büsche, bevor meine Mutter mich greifen kann. Sie schlägt die Hände zusammen und verdreht die Augen. Als ich wieder hochkomme und mir meine tauben Füße vertreten will, sehe ich ein seltsames Panorama.
    Entlang der Straßenränder stehen Zelte. Folie auf Holzstecken gespannt. Die Plastikwigwams ziehen sich über die ganze Länge der Straße, die schnurgerade zur Fabrik führt, an der wir vorübergefahren sind, und verlieren sich in der Ferne. Dutzende solcher Zelte links und rechts der Fahrbahn, mal weiß, mal blau gedeckt. Ich mache noch ein paar Schritte auf sie zu: Alle sehen absolut gleich aus. Auch der Inhalt jeden Zeltes ist ident mit dem des Nachbarn: jungfräuliches, weißes, begehrtes Klopapier. Berge aus Klopapierrollen.
    Klopapierpyramiden, die eine stolze Höhe von fast zwei Metern erreichen. Sie füllen die Zelte fast vollständig aus, ordentlich aufeinandergestapelt, daneben die beflissenen Verkäufer, die uns mit Bazargesten in ihr Reich locken wollen: Kommen Sie! Kaufen Sie!
    Dass der Nachbar links und der Nachbar rechts, dass die gesamte Verkaufsfläche mit demselben Produkt angefüllt ist, scheint niemanden zu stören: Zwischen den Verkaufsständen flanieren Menschen, die unter den angebotenen Waren gustieren, um das allerbeste Stück für sich zu ergattern oder den günstigsten Preis herauszuschlagen.
    Das Klopapier reicht bis zum Horizont und für alle. Endlich ist die kommunistische Maxime mit den Gesetzen des Kapitalismus vereint, sozusagen die Quadratur des Kreises.
    Die seit Monaten nicht bezahlten Fabrikarbeiter haben sich kurzerhand selbst versorgt und den ausstehenden Lohn in Rollen an sich genommen. Die Auslieferung der Ware, die seit Monaten ebenfalls nicht funktioniert, hat ein klaffendes Konsumloch in den Geschäften hinterlassen und Tausende Putzbedürftige hierhergelockt: Vielleicht hat nicht jeder Geld oder eine große Wohnung, ein Klo jedoch hat ein jeder. Die Lage der Fabrik hat sich herumgesprochen, und die Einkaufstour kann beginnen. Mancher Verkäufer akzeptiert auch Naturalien, ich sehe Menschen feilschen, die ihrerseits Rucksäcke dabeihaben, die mit Pilzen, Fellen, Weinflaschen beladen sind. Ein mittelalterlicher Markt.
    Meine Mutter hängt den Onkel ab und geht zu den ersten Ständen hin, während ich die ganze Länge gerne laufen würde, die Straße bis zum Horizont. Sie ruft mich nach ein paar Metern wieder zurück, knapp und leise, aber ich wende und komme ihr nach, irgendetwas in ihrer Stimme klingt elend. Sie kramt in ihrem alten Samtbeutel, ihre Hände beben. Dann dreht sie sich so zum Verkäufer hin, dass außer mir und meiner Schwester niemand sieht, was sie tut, und bietet ihm auf ausgestreckter, sehr sauberer Hand einen tropfenförmigen, funkelnden Gegenstand an, und ich erkenne einen ihrer Ohrringe. Der Verkäufer nimmt ihn achtlos aus ihren Fingern und reicht uns einen großen Plastiksack. Wir fallen über unsere Rollen her und stopfen sie zuerst in die Säcke und dann ins Auto, während der Onkel am Rand der Straße sitzt, aus seiner Flasche trinkt und uns lachend dabei zusieht. Bald werden wir die Heimreise antreten, meine Mutter wird die blütenweiße Pracht besonders langsam vor dem Haus ausladen und darauf achten,
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