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Die Erde ist nah

Die Erde ist nah

Titel: Die Erde ist nah
Autoren: Ludek Pesek
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verfügen, nicht zulassen, gleichzeitig aber erregt mich die Frage, welches Recht jemand hat, über ein fremdes Leben zu entscheiden. Das Unangehme bei alledem ist der Zweifel, welchen Anteil an diesen Gedanken die Angst um das eigene Leben hat.
    Der Kapitän sendet immer wieder in die taube Atmosphäre seine Aufforderung, in der er sich gleichsam mit der Faust auf seine Autorität als Kommandant beruft. Ich vernehme sie mit steigendem Widerwillen. Sie enthält nichts als Phrasen von Verantwortlichkeit und Recht. Das empört mich. Da höre ich plötzlich seine Stimme, die ganz anders klingt: »Willy, ich bitte dich, sei vernünftig und komm zurück! Du vernichtest den Rest meines Lebens ...«
    Eine von Radcliff geführte Gruppe von sechs Männern verlangt vom Kapitän, die zweite Zeitreserve nicht verstreichen zu lassen. Sich für einen Wahnsinnigen zu opfern, sei nicht Sinn dieser Marsexpedition. Der Kapitän gibt keine Antwort. Er ändert auch nicht seine Entscheidung.
    Den Rest der Nacht verbringen wir damit, dem freiwilligen Schiffbrüchigen Lebensbedingungen zu sichern. Vielleicht ist es ein grausamer Unsinn, einem Menschen das Leben um fünfzig Tage zu verlängern, wenn er absolut keine Chance hat, auch nur einen Tag länger auszuhalten, sobald der Sauerstoff zu Ende geht. Aber operieren nicht auch Ärzte hoffnungslos Kranke nur deshalb, um ihnen das Leben um einige Tage zu verlängern? Das Gewissen ist ein unbestechlicher Richter. Wir stellen fest, daß O'Brien - falls es uns nicht gelingt, ihn zu finden- die Möglichkeit hat, etwa zweihundert Tage auf der Basis zu leben - vorausgesetzt, daß er Interesse daran hat. Der jetzt als Abschußrampe dienende klimatisierte Klubraum bleibt unbeschädigt. Treibstoff für das Aggregat der elektrischen Kraftanlage bleibt für ein ganzes Jahr, Proviant und Getränke mindestens für ein halbes Jahr. Doch bleibt nicht ein Gramm Hoffnung auf ein Entkommen. Als es zu dämmern beginnt, durchsuchen wir nochmals alle Räume der Basis. Drei Gruppen streifen zwischen den Sanddünen in der Umgebung der Basis. Ein schwacher Wind weht und spielt im nebligen Schein der Sonne mit dem Staub. Bereits eine Stunde vor dem Start sitzen wir alle in unseren Antigravitationssesseln. Das Metall des Schiffes vibriert leicht von der Bewegung der Hilfsmotoren. Die Zeit schleicht dahin wie ein Tier mit zerchmetterter Wirbelsäule. Ich sitze festgeschnallt im Sessel. In meinem Kopf kreisen die Gedanken wie eine Schar Raben im Vorfrühlingswind. Vielleicht ist das, was in der unruhigen Atmosphäre zu spüren ist, wirklich der Frühling.
    Um elf Uhr sechs Minuten und dreißig Sekunden örtlicher Marszeit setzen die Raketenmotoren ein.Ich fühle, daß ich bin. Der Druck auf die Brust und die Kopfschmerzen lassen nach, und ich schwebe im Grenzland einer wohligen Ruhe. Alles ändert seine Ausmaße und Gestalt. Alles verliert das Gewicht. Ein Vorhang geht vor der strahlenden Traumleinwand auseinander, und folgender Filmstreifen läuft ab: Auf einem Hügel steht ein Mensch im Raumanzug. Da blitzt es am fernen Horizont der Wüste, und aus den Staubwolken wächst eine Feuersäule empor. Langsam steigt sie höher, nimmt an Geschwindigkeit zu, zielt kerzengerade nach oben und verschwindet nach einer Weile zwischen den leuchtenden Sternen. Der Mensch steht lange, breitbeinig, unbeweglich und allein, während die Sonne über das dunkle Firmament zieht. . . Dann folgt ein Bild, auf dem die Sonne hinter der schwarzen Silhouette der Antennenmasten in ein feuriges Meer taucht. Der Mensch steht bei einem niedrigen, steinernen Grabhügel, und ein roter Abglanz fällt matt auf seinen Raumanzug. Dann verschlingt die Wüste die Sonne. Der Mensch geht in seinen stählernen Wohnraum.Über dem gewellten Horizont steigen dünne Nebelstreifen auf und verbreiten bleiches Licht über die schwarze Landschaft. Nichts bewegt sich. Nur ein eisiger Wind, der über die unabsehbaren, in Dunkelheit getauchten Flächen pfeift, treibt Staub über die Dünen. Da blitzt hinter einem kleinen, runden Fensterchen ein Licht auf und wirft einen warmen Schein auf die darüber hinwegwirbelnden Staubkörnchen . . . Dann erscheint die Schrift: Ende. Das ist das Ende des Marstraumes. Ich denke über den Film nach. Vielleicht ist O'Briens Satz vom Sinn des Lebens gar nicht zynisch gemeint. Vielleicht besteht der Sinn des Lebens wirklich im ewigen Kampf um die Größe seiner Bedeutung.
     
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