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Die Erde ist nah

Die Erde ist nah

Titel: Die Erde ist nah
Autoren: Ludek Pesek
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keine Sehnsucht und auch keinen Traum. Der Start des Moduls hat drei Zeitreserven. Dreimal sieben Stunden, neununddreißig Minuten und dreizehn Sekunden, das ist die Umlaufzeit des Marsmondes Phobos, auf dem der Modul vor dem Abflug zur Erde zwischenlanden muß. Die letzte Zeitreserve versäumen, bedeutet den letzten Zug versäumen. Und das wird im Weltraum mit dem Tode bestraft. Deshalb fürchten wir, während der Tag, die Stunde und die Sekunde herannaht, jede Kleinigkeit, die eine solche schicksalhafte Verzögerung verursachen könnte. Die ganze Last der Rückkehr hängt buchstäblich an einem seidendünnen Drähtchen. Alles verlief anders, als wir vorausgeplant hatten. Alles, vom Augenblick der Landung und noch vorher, bis zum Augenblick des Starts und noch nachher. Am vierhundertvierundvierzigsten Tag, drei Stunden vor dem Start, standen wir auf dem staubigen Boden des Mars, um zum letztenmal das Andenken Williams' und Lawrensons zu ehren. Ein schwacher, aber ständiger Wind kräuselte die Oberfläche der Wüste, und die untergehende Sonne beleuchtete die Landschaft mit ihrem blutroten Feuerwerk. In der Reihe schweigender Männer fehlte jedoch O'Brien. Niemand ahnte, was ihn veranlaßt hatte, sich so barbarisch zu benehmen. In diesem Augenblick verachtete ich ihn. Dann fiel mir plötzlich ein, daß ich ihm vielleicht Unrecht tat. O'Brien war krank. Es konnte ihm etwas zugestoßen sein. Ich erinnerte mich, ihn zuletzt in der Austrittskammer gesehen zu haben, wo wir unsere Raumanzüge kontrollierten. Ich war der vorletzte. Hinter mir war niemand mehr als O'Brien. Aus meinen Gedanken riß mich der Befehl des Kapitäns zu den letzten Startvorbereitungen.
    Als wir in die Überdruckkammer zurückkehrten, war O'Brien nicht dort. Er war auch nicht im Klubraum und in den Kabinen des Moduls. Auf den Radioruf meldete er sich nicht.
    Der Kapitän rief mich in die Führerkabine. Als ich eintrat, zeigte er auf das geöffnete Bordtagebuch, auf dessen unbeendeter Seite mit ungewöhnlich großer Schrift einige schwer leserliche Worte geschrieben waren. Nach einer Weile gelang es mir, den Sinn zu entziffern: Die Größe des Lebens besteht in seiner Bedeutungslosigkeit - der Sinn des Lebens ist, es zu verleugnen. William O'Brien.
    Der Kapitän ließ die erste Zeitreserve verstreichen und befahl, alle Räume der Basis zu durchsuchen. Inzwischen war es Nacht geworden. Im Schein elektrischer Lampen suchten wir Spuren im Staub, doch außer unseren eigenen vor dem Eintritt in die Überdruckkammer, die langsam unter den Staubanwehungen verschwanden, entdeckten wir nichts als die Gewißheit, daß seine Spuren, wenn er vor einer Stunde die Basis verlassen hatte, längst verweht waren. Der Kapitän sendete in kurzen Intervallen die Aufforderung, daß O'Brien durch seine Handlungsweise nicht das Leben der ganzen Expedition gefährden solle. In diesem Augenblick begriff ich, warum alles Böse, das uns begegnete, zu so riesigen Dimensionen anwuchs; der Kapitän war nie ein einfacher Mensch, er war immer nur Kommandant und Soldat. Vielleicht wußte er gar nicht, daß ein einfacher Mensch zu sein mehr bedeutet. Zwei Eidechsen mit eingeschalteten Scheinwerfern kreisten drei Stunden lang in der nächsten Umgebung der Basis. Der Kapitän besprach sich mit der Erdzentrale über die Möglichkeit des Abflugs in der zweiten Zeitreserve. Die Hilfsmotoren des Moduls laufen bereits ununterbrochen. Zwanzig Minuten nach drei Uhr früh soll der Modul starten. Es bleiben noch zwei Stunden. Die Lichtkegel streichen über die öden Dünen und zerfließen in der Ferne im aufwirbelnden
    Staub. In den Kopfhörern meldet die Stimme des Kapitäns die Aufhebung der zweiten Zeitreserve. Eine heiße Welle der Beunruhigung überfällt mich, und gleichzeitig drängt sich mir die Frage auf, was geschehen wird, wenn irgendeine Komplikation beim Manöver auf dem Satelliten Phobos eintreten würde. Wir würden die Möglichkeit der Rückkehr zur Erde versäumen. Für immer. Ich überlege, ob das unternommene Risiko, dem siebzehn Menschenleben ausgesetzt sind, die Hoffnung aufwiegt, O'Brien zu finden. Ob es überhaupt richtig ist, das Leben der andern durch die Rettung des einen zu gefährden. Ich fühle Zorn und gleichzeitig Enttäuschung über die eigene Schwäche. Mir ist klar, daß es eine Schwäche ist, die Rettungsversuche zu unterlassen, solange noch irgendeine Hoffnung besteht. Als Arzt kann ich den Gedanken, daß der Mensch ein Recht hat, beliebig über sein Leben zu
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