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Die Erde ist nah

Die Erde ist nah

Titel: Die Erde ist nah
Autoren: Ludek Pesek
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habe, kann ich es mir leisten, über alles nachzudenken. Selbstverständlich auch über mich. Das ist zwar nicht gerade aufmunternd, aber auch nicht hoffnungslos. Es kommt nur darauf an, für alles den richtigen Maßstab zu finden. Habe ich oder hat die Psychologie versagt? Ich glaube, daß die Psychologie versagt hat, die der Erdbewohner. Sie hat andere Normen, andere Maßstäbe. Ich glaube den Geist dieses von der Erde so unterschiedlichen Planeten begriffen zu haben und komme zu dem Schluß, daß wir fremde Welten nicht dadurch erobern können, daß wir sie uns anpassen, sondern wir müssen uns ihnen anpassen. Ich träume von der Zukunft, in der es nicht nötig sein wird, bei Flügen zu fremden Planeten Tonnen Luft und Lebensmittel mitzuschleppen; denn es ist nicht unmöglich, die Zusammensetzung des Blutes zu ändern, die Art des Atmens, die Körpertemperatur, die Stoffveränderung, den Rhythmus des Schlafens und Wachens. Da fällt mir ein: Was bedeutet eigentlich Träume verwirklichen? Der Mensch betritt den Mars und findet hier weder kriechende grüne Monstren noch uralte Wasserkanäle, in deren dunklen Wasserflächen sich die Dächer der Mars-Städte widerspiegeln, auch nicht das vom Sand verwehte Mars-Atlantis. Unser Aufenthalt auf dem Mars ist eine Summe von endlosen, eintönigen Mühen.
    Bis zum Rückflug haben wir noch dreißig Tage Zeit. Der Mars-Herbst meldet sich mit einer unbeweglichen und durchsichtigen Atmopshäre an. O'Brien sitzt stundenlang in der Kuppel des Observatoriums. Er sieht aus, als ob er schwer krank ist. Nicht deshalb, weil er unmöglich mager ist, sondern weil seine Augen einen beunruhigend abwesenden Ausdruck haben. Das ist der Blick aus einer anderen Welt. Oder in eine andere Welt? Sooft ich versuche, dieses Geheimnis zu lüften, stoße ich auf die undurchdringliche Mauer des Schweigens. Um so mehr bin ich überrascht, als er mich eines Tages auffordert, mit ihm ins Observatorium zu gehen. In der gut isolierten Kuppel herrscht feierliche Stille. »Hören Sie etwas?« fragt mich O'Brien. Außer O'Briens Atem höre ich nichts. »Horchen Sie gut«, dringt O'Brien in mich. Er behauptet, harmonische Töne zu hören. »Es klingt wie ein Akkord von Orgelpfeifen«, sagt er und sieht dabei mit kaltem, abwesendem Blick durch mich hindurch. Draußen ist es windstill. »Das kann das Summen des Blutes in den Ohren sein. Ein Summen im Kopf«, sage ich.
    »Lassen sich Halluzinationen des Gehörs objektiv feststellen?« fragt O'Brien unmittelbar. »Was nun, wenn ich ein besseres Gehör habe als Sie?«
    »Reden Sie sich nichts ein, es wird klüger sein, wenn Sie zugeben, daß Sie krank sind.« »Wollen Sie damit sagen, daß ich verrückt bin?« »So kraß würde ich das nicht formulieren . ..« O'Brien schließt müde die Augen und sagt: »Wir haben alle zu wenig Mut, um bis zum Äußersten . . . Was dann, wenn alles viel einfacher wäre, als wir denken? Wenn das Wesen des Lebens, nach dessen Bestätigung ich vergeblich gestrebt habe, nicht in schwindelerregend komplizierten Gruppierungen von Wasserstoff- und Kohlenstoffatomen beruht, sondern in der Harmonie, im Tonsystem, im Zusammenklang, in Noten, die nach einem einheitlichen und einfachen Schlüssel geordnet sind? Der abschließende, belebende Akkord . . .« Während ich in die tote Wüste hinausblicke, sehe ich plötzlich im Geiste das Bild des zertrümmerten, verwehten Wracks der Libelle - und darüber einen Schwärm bunter, flatternder Schmetterlinge.
    29
    Der Traum, der sich uns vor vierhundertvierzig Tagen erfüllte, war viele Jahre herangereift. Wir waren auf dem Planeten Mars gelandet. Es zeigte sich, daß ein verwirklichter Traum sehr schwer ist, denn ein einziger wirklicher Stein ist schwerer als ein ganzer Traumberg. In vierhundertvierzig Tagen reifte jedoch ein neuer Traum heran: alles Erträumte zu verlassen und zur Erde zurückzukehren. Alles hat sich gewendet. Die Sehnsucht nach dem Unbekannten hat sich in die Sehnsucht nach dem Bekannten verwandelt. Der für den Rückflug bestimmte Modul ruht schwer auf dem unteren Teil des Mutterschiffes; alle Verbindungsteile sind schon abmontiert. Die von wunderwirkender Kraft strotzenden Raketenmotoren, die uns den Anblick des blauen Himmels, der Bäume und Städte voll lebender und sprechender Menschen wiederbringen sollen, warten auf das grüne Zeichen. Der Fahrplan zwischen den Planeten straft grausam jede Ungenauigkeit. So wie jede Ordnung ist er kalt, unbeteiligt, kennt keine Ungeduld,
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