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Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Titel: Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Autoren: Meral Al-Mer
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PROLOG Licht und Schatten
    M eral!«
    Ich stehe vor einer Lehmhütte im tiefsten Anatolien, nicht weit von der syrisch-türkischen Grenze entfernt. Dies ist die Heimat meiner Eltern. Ich bin zwölf Jahre alt und schaue zu meinem Vater Hamid hinüber, so wie ich es immer tue, so wie ich es gelernt habe, denn keine Entscheidung in meinem Leben darf ich ohne seine Erlaubnis treffen.
    »Meral! Komm herein, Meral!«
    In den Augen meines Vaters entdecke ich Angst, und das ist höchst ungewöhnlich. Ich sehe ihm an, dass er mir gerne verbieten würde, diese Hütte zu betreten. Aber er wagt es nicht. Schon allein das ist eine kleine Sensation. Was soll ich tun? Seinem unausgesprochenen Wunsch gehorchen oder die magische Schwelle übertreten?
    »Mädchen! Worauf wartest du?«
    Ich drücke die Tür auf und gehe hinein. Es dauert einen Moment, bis sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben. Dann erkenne ich eine unfassbar dicke Frau, die wie eine riesige Kugel auf ihrem Sitzfleisch ruht. Ihr Haar leuchtet hennarot. Sie winkt mich zu sich heran und lächelt mit golden blinkenden Zähnen. Diese Frau, die aussieht wie eine orientalische Hexe, ist die Schwester meiner Großmutter, eine der vielen Tanten meines Vaters. Ich habe meine Oma Halima sehr geliebt, erst vor Kurzem ist sie gestorben.
    »Komm her«, sagt die rothaarige Großtante mit den goldenen Zähnen. »Lass dich anschauen.«
    Sie mustert mich mit ihren lebhaften schwarzen Augen. Ich halte ihrem Blick stand und lächle zurück.
    »Ich hab etwas für dich«, sagt sie, »etwas, das schon lange in unserer Familie von Mädchen zu Mädchen weitergegeben wird. Deine Oma wollte, dass du das jetzt bekommst.«
    Sie streckt den Arm aus und greift nach einem kleinen Stoffbeutel. Zwei Steine schüttelt sie heraus; einer ist orange, der andere grün.
    »Hier«, sagt sie und legt mir die Steine in die Hand. »Die gehören jetzt dir. Trag sie bei dir. Und wenn du einmal eine Tochter hast, dann gib sie an sie weiter.«
    Diese Steine trug ich immer bei mir, bis mir eines Abends während eines Auftritts der orangefarbene, den ich besonders liebte, aus der Manteltasche hüpfte und unter der Bühne des Berliner Clubs verschwand. Ich suchte verzweifelt und kehrte am nächsten Tag noch einmal zurück – vergebens. Der Stein hatte beschlossen, mich zu verlassen. Da begriff ich, dass meine Geschichte noch nicht zu Ende ist. Ich verstand, dass mein Leben eine Art Reise ist oder besser gesagt, auf eine bestimmte Reise hinsteuert: auf die Reise hin zu meiner Mutter.
    Denn fast dreißig Jahre meines Lebens musste ich ohne meine Mutter zurechtkommen. Die Hälfte dieser Zeit war bestimmt durch die immer übermächtiger werdende Gegenwart meines Vaters und die Abwesenheit meiner leiblichen Mutter. Nicht etwa, weil sie tot war, sondern weil ich ihr entrissen wurde, im Alter von sechzehn Monaten.
    Seit dem Tag, an dem ich meinen orangefarbenen Glücksstein verlor, schrieb ich Szenen meines Lebens nieder, wie einzelne Perlen, die noch nicht auf eine Schnur gereiht worden sind. Zunächst einfach für mich selbst, um meine Geschichte besser zu verstehen. Denn ich wollte herausfinden, was zwischen mir und meinem Vater geschah, den ich über alles liebte, so sehr, dass ich es fast nicht geschafft hätte, mich vor ihm in Sicherheit zu bringen. Das Aufschreiben half mir, klarer zu sehen und zu erkennen, wie in diesen Geschichten, in denen es um die Selbstbestimmung von Frauen mit türkischem oder arabischem Hintergrund geht, und die sich alle im Kern sehr ähneln, ein Ereignis zum anderen fügt, bis am Ende eine Katastrophe unausweichlich scheint.
    Als ich einen meiner Onkel fragte, ob er mir mehr über die rothaarige Großtante mit den goldenen Zähnen erzählen könnte, sagte er: »Bist du verrückt? Steine von dieser Hexe? Wirf sie weg! Verbrenn sie! Sie sind der Grund, dass dein Leben so ist, wie es ist.«
    Aber das glaube ich nicht. Ich glaube ganz fest daran, dass die wirklich Guten in dieser Geschichte die Frauen sind. Sie sind es, die Liebe verschenken, auch wenn sie immer das meiste Leid ertragen müssen: Schläge, Misshandlungen, Ungerechtigkeit und viel zu oft den Verlust ihrer Kinder.
    Manchmal sehe ich sie vor mir, die lange Reihe meiner Ahninnen, die aus Syrien stammen und Töchter eines stolzen Nomadenstammes sind. Lebenskluge und starke Frauen, und doch konnte sich keine davor schützen, geschlagen und gedemütigt zu werden. So wie meine Oma Halima, die Schwester jener »Hexe« mit den
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