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Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Titel: Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Autoren: Meral Al-Mer
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sie eigentlich meinten. Wieso sollte ich verloren sein? Bis ich verstand: Von einer deutschen Mutter erzogen, war ich für die Kultur, für das geistige und religiöse Erbe meiner Vorfahren verloren. »Sie spricht ja nicht mal richtig Türkisch.«
    Nein, das tat ich nicht. Mein Vater wollte es so. Ich sollte genauso aufwachsen wie die deutschen Kinder in unserer Nachbarschaft, so wie auch er das staubige Dorf mit seinen Ziegen und Analphabeten und »Kopftuchweibern« ein für alle Mal hinter sich lassen wollte. Seine Träume sahen anders aus als die seines Vaters.
    Der veranstaltete ein Riesentheater, als Hamid ohne Saliha aus dem Urlaub nach Hause kam. Die Familienehre stand auf dem Spiel, schließlich war man verwandt, wenn auch um einige Ecken. »Pass gut auf meine Tochter auf«, hatte sein Cousin bei der Hochzeit gesagt, und er, Abit Al-Mer, hatte sein Wort gegeben. Dafür, was Hamid Saliha angetan hatte, gab es keine Entschuldigung.
    »Du holst sie zurück!«, schrie Großvater Abit meinen Vater an.
    Doch der Alte hatte keine Macht mehr über seinen ältesten Sohn. Der weigerte sich einfach. Zog mit dieser deutschen Schlampe zusammen. Scherte sich einen Dreck um Familie und Tradition. Und der Gipfel war: Er weigerte sich, Saliha ihren Goldschmuck auszuhändigen. Ein ganzes Kilo in Gold, Salihas Brautgeld und Absicherung für den Fall, der jetzt eingetreten war. Sie hatte ihren Brautschatz in Deutschland zurückgelassen, ohne Argwohn zu schöpfen; so einen Reichtum nimmt man schließlich nicht mit auf eine Reise.
    »Nö, wieso«, sagte Hamid. »Hab ich das nicht alles selbst bezahlt?« Und dabei blieb es.
    Oder war es anders? War es meine geliebte Oma Halima, die auf dem Gold saß wie der leibhaftige Drache aus dem Märchen, wie es Salihas Familie später behaupten sollte? Tatsache ist, Saliha war das schlimmste Schicksal zugestoßen, das einer arabischen Frau überhaupt passieren kann: Hochschwanger saß sie wieder bei ihrer Familie, ohne ihren Goldschmuck, ohne ihre Tochter, verlassen von ihrem Mann. Es gab andere Fälle, da wurde eine solche Tochter von der eigenen Familie verstoßen. Saliha blieb dieses Schicksal erspart, denn sie hatte einen gütigen Vater, der auch zu ihr stand, als die Hyänen in der Familie forderten, das Kind in ihrem Bauch abzutreiben. Der ihr half und seine schützende Hand über sie hielt. Der sie zurücknahm und für sie sorgte, für sie und ihren Sohn, den sie zwei Monate später gebar. Sie wollte ihn Baris nennen, das heißt »Frieden«. Doch ihr Vater sagte: »Für Frieden ist es noch zu früh.«
    Und so erhielt der Kleine den Namen Mourad, »Wunsch«. Welchen brennenden Wunsch meine Mutter in ihrem Herzen hegte, welcher Wunsch sie mitunter bis an den Rand des Wahnsinns trieb, davon ahnte ich lange nichts.
    »Sie könnte ja nach mir suchen«, dachte ich, als ich älter wurde. »Aber wahrscheinlich hat sie mich längst vergessen.«

3
Ohne meine Mutter
    A ls Hamid keine Vernunft annehmen wollte und sich weigerte, Saliha zurückzuholen, tat Großvater Abit das Äußerste, was er als Familienoberhaupt tun konnte: Er verstieß seinen ältesten Sohn.
    Normalerweise ist dies für einen Türken wie für einen Araber das Schlimmste, was ihm zustoßen kann, denn ein Leben außerhalb der Familie ist schlichtweg nicht denkbar.
    Ob Hamid darunter litt? Wenn dem so war, dann zeigte er es nicht. Er suchte sich gemeinsam mit Kornelia eine eigene Wohnung und zog mit uns nach Mönchengladbach-Rheydt in eine düstere Dreizimmer-Altbauwohnung in der Brucknerallee. Bedeutete das nicht endlich Freiheit? Denn bietet die Großfamilie einerseits Schutz und Rückhalt, so ist sie andererseits auch eine gnadenlose Kontrollinstanz. Jeder ist jederzeit über alle Schritte genauestens informiert, ein Privatleben ist so gut wie unmöglich.
    Doch damit war jetzt Schluss. Als aufgeschlossener, moderner Mann, denn als solcher sah er sich, gründete er mit Kornelia eine interkulturelle Patchworkfamilie. Und ich erhielt in Mark einen Bruder, mit dem ich das Kinderzimmer teilte. In dieser Zeit setzen meine ersten Erinnerungen ein, zerbrechlich und isoliert, wie Szenen, die aus dem Zusammenhang eines Filmes gerissen wurden.
    Da ist das Gefühl von Geborgenheit, wenn ich auf dem Schoß meines Vaters sitze und mich an seinen Bauch lehne. Während er sich mit anderen Erwachsenen unterhält, streichelt er ganz zart meine Finger. Ich bin eingehüllt in seine Wärme, atme seinen Duft, eine Mischung aus seinem eigenen
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