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Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Titel: Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Autoren: Meral Al-Mer
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Stimmung veränderte. Dennoch gab ich mir die größte Mühe, ein gutes Kind zu sein, denn im Grund meines Herzens dachte ich, dass ich nur einfach lieb sein und all das tun müsste, was sich mein Vater von mir wünschte, dann wäre alles gut. Es sollte lange dauern, bis ich verstand, dass es nicht an mir lag.
    Ein wichtiger Gradmesser der väterlichen Liebe waren die Gutenachtküsse. Ich war süchtig nach ihnen. Bekam ich einen, dann war es ein guter Tag gewesen. Kornelia machte Mark und mich für die Nacht zurecht, und dann durften wir nochmal zu meinem Vater ins Wohnzimmer. Da saß oder lag er auf dem Sofa.
    »Iyi geceler«, sagte ich. »Gute Nacht, Papa.«
    Er nahm mich in den Arm und kitzelte mich, bis ich lachte, und sagte: »Tebqa-älä-cher, mein Mädchen, schlaf schön.« Ich atmete noch einmal ganz tief seinen Duft ein, so als könnte ich meinen Papa damit in mich aufsaugen, und dann bekam ich ein lautes Küsschen. An diesen Abenden war ich glücklich und schlief schnell ein.
    Auch Kornelias ganz eigenen Geruch mochte ich gerne: eine Mischung aus Camel-Zigaretten, Nivea-Creme und Wrigleys Doublemint-Kaugummi, mit dem sie diesen typischen Mundgeruch übertönen wollte, den starke Kaffeetrinker und Raucher nun mal haben. Kornelia sah immer ein bisschen krank aus; sie war stets blass und viel zu dünn. Ihre grünlich-blauen Augen umrandete sie mit Kajal. Eigentlich war Kornelia brünett, aber sie färbte sich ihr Haar blond und trug eine Dauerwelle, wie es in den Achtzigerjahren modern war. Kornelia war lieb zu mir; sie machte keinen Unterschied zwischen mir und Mark, nahm uns gleichermaßen in den Arm und kuschelte mit uns. Das brauchte ich wie die Luft zum Atmen, und wann immer es möglich war, saß ich bei irgendwem auf dem Schoß, schmiegte mich an, konnte gar nicht genug menschliche Wärme bekommen.
    Schöne Erinnerungen habe ich auch an die Besuche bei Kornelias Eltern. Ihr Vater war Kirchenwart und konnte wunderbar Orgel spielen, obwohl ihm ein Daumen fehlte. Ihre Wohnung lag direkt neben dem Kirchenraum, man musste nur eine Tür öffnen, und schon war man in der Kirche. Marks Opa bastelte viele schöne Dinge für uns, ich erinnere mich noch an eine Lokomotive aus Holz, mit der wir gerne spielten.
    Auf Mark, meinen neuen Bruder, musste ich ständig aufpassen, denn obwohl er ein halbes Jahr älter war als ich, passierte ihm dauernd etwas. Ich liebte Mark und erzählte jedem, der es hören wollte, dass ich ihn später einmal heiraten würde.
    Hamid und Kornelia arbeiteten im Schichtdienst, und darum waren wir oft allein in dieser Wohnung mit dem moosgrünen Teppichboden, der Wohnzimmerschrankwand »Eiche rustikal« und der braun-beigen Polstergarnitur. Wenn unsere Eltern Nachtschicht hatten, dann schliefen sie tagsüber und wir mussten leise sein. An solchen langweiligen, stillen Nachmittagen kletterte ich aus meinem grünen Holzgitterbettchen mit dem Bambi-Aufkleber und sah Mark beim Schlafen zu. Viele Male stand ich an seinem weißen Kinderbett und lehnte ihm ganz sacht ein Auto an die Hand.
    Wenn Mark wach war, dann baute er leider jede Menge Mist. Einmal trank er alle Reste aus, die in den Gläsern vom Abend zuvor auf dem Couchtisch stehen geblieben waren, und musste mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus gebracht werden. Ein anderes Mal nahm er mein geliebtes Monchichi und zündete es an. Ich sehe noch heute vor mir, wie das Kunststoffgesicht des Spielzeugäffchens brutzelte und zerschmolz, bis Mark erschrak und das brennende Ding in sein Bett warf, das natürlich sofort Feuer fing. Diese Art von Unsinn sorgte dafür, dass Mark viel mehr Prügel abkriegte als ich. Mir tat das mehr weh, als wenn ich selbst geschlagen wurde; ich litt ganz fürchterlich mit ihm und hätte ihn so gerne beschützt. Irgendwann begann er zu stottern und entwickelte Tics. Mein Vater lachte darüber, dass Mark zusammenzuckte, wenn er eine bestimmte Handbewegung machte. Oft schlug mein Vater Mark auf den Hinterkopf, einfach so. Das mochte ich gar nicht.
    Und dann erinnere ich aus ihrem Zusammenhang gelöste Szenen, in denen sich schwarze Wolken vor die Vatersonne geschoben hatten, sodass er fast nicht mehr zu erkennen war. Eines Tages zum Beispiel setzte man uns aufs Töpfchen und ließ uns allein. Im Fernseher lief Walt Disneys animierte Version des »Zauberlehrlings«. »Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal fortbegeben …« Später hatte ich oft Albträume, in denen diese Zauberlehrlings-Mickey-Mouse ihr Unwesen
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