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Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Titel: Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Autoren: Meral Al-Mer
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Körpergeruch, dem Rasierwasser, das er immer benutzt, und seinen Zigaretten – wo immer er geht, überall hängt dieser Vaterduft in der Luft, vertraut und tröstlich.
    Hamid kannte sich mit kleinen Kindern gut aus, er wusste genau, wie man sie halten muss; es machte ihm nichts aus, uns die Windeln zu wechseln oder die Nase zu putzen.
    Ich liebte es, mit ihm ganz allein zu sein, obwohl das selten genug vorkam. Dann schmierte er mir ein Brot oder kochte Tee für mich. Oder er half mir, meine Strumpfhose anzuziehen. Dazu kniete er sich vor mich hin und raffte die Strumpfhose bis zur Socke zusammen. Ich stand auf einem Bein, hielt mich an seiner Schulter fest und sah hinunter auf sein dichtes, glänzendes Lockenhaar, das ich von ihm geerbt habe. Manchmal fasste ich es auch vorsichtig an; ich berührte es so gern.
    Wenn er »in die Stadt« ging, wie er es nannte, nahm er mich oft mit. Zuvor allerdings machte er sich zurecht. Wie alle Männer in meiner Familie, war auch mein Vater sehr eitel und stets gepflegt. Wenn er mit seiner Toilette fertig war, ging es los. Im Auto drehte er die Musik auf und sang laut mit; das liebte ich besonders. Oder er rauchte, kurbelte das Fenster runter und legte den linken Arm dort lässig ab. Manchmal musste er hupen und sich fürchterlich aufregen, wenn er fand, dass einer nicht richtig fuhr. Es kam auch oft vor, dass wir anhielten, weil jemand am Straßenrand eine Panne hatte. Während mein Vater ausstieg und fragte, ob er helfen könnte, sah ich vom Auto aus zu, wie er mal den Werkzeugkasten, das Starterkabel oder auch mal einen Kanister aus dem Auto holte und den Pannenwagen wieder flottmachte.
    Dann verabschiedete er sich höflich, und ich werde nie die glücklichen, erleichterten Gesichter dieser Menschen vergessen.
    »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagten sie oft.
    »Kein Problem«, antwortete mein Vater und war schon wieder bei mir am Auto. »Hab ich gern gemacht.« Und ich war unendlich stolz auf meinen schönen, hilfsbereiten und geschickten Vater, dem nichts zu schwierig war.
    Wenn wir dort angekommen waren, wo wir hinwollten, rief ich oft: »Dort, Papa, da vorne ist ein Parkplatz!«, und bewunderte, wie sicher und flott er den Wagen rückwärts in die Parklücke steuerte.
    Wir stiegen aus, und mein Vater ging noch einmal um den Wagen herum, trat mit dem Fuß gegen einen Reifen. Das machte er auch bei fremden Autos, wenn er sich die ansah, und ich dachte mir: »Damit prüft er das Auto, ob auch alles mit ihm in Ordnung ist.«
    Dann nahm er meine Hand, und wir gingen »in der Stadt spazieren«. Wir flanierten durch die Einkaufsmeile, und ich hielt seine Hand so lange fest, bis sich zwischen unseren Handflächen ein warmer, feuchter Film gebildet hatte und sie auseinanderflutschten.
    »Das ist meine Tochter Meral«, stellte er mich stolz Bekannten oder Arbeitskollegen vor und stupste mich an, damit ich ihnen die Hand gab. Oft gingen wir Eis essen, das heißt: Ich bekam einen Eisbecher, und er nahm einen Kaffee, saß da, rauchte und betrachtete die anderen Menschen.
    Ich war vielleicht vier oder fünf Jahre alt, als er mich zu einem Konzert von OPUS mitnahm. Ich saß auf seinen Schultern, und wir sangen: »Live is life/Na na na na na …« Das war ein riesiger Spaß:
    When we all give the power
    We all give the best
    Every minute of an hour
    Don’t think about the rest …
    Meinem Vater ging es an diesem Abend richtig gut, das konnte ich bei jeder seiner Bewegungen deutlich spüren, die sich auf mich übertrugen, und auch ich war ein winziges Bündel aus Glückseligkeit. Es war mir, als würden wir zu einem einzigen Wesen verschmelzen, und ich wünschte, ich könnte immer dort oben bleiben, meine Hände in seiner Mähne vergraben, und mit ihm gemeinsam singen.
    Es war tatsächlich oft die Musik, die uns miteinander verband. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er mit mir am St. Martins-Tag von Tür zu Tür ging und neben mir stand, wenn ich die Lieder sang und hoffte, mit Süßigkeiten belohnt zu werden.
    In meinem Leben ohne Mutter schien mein Vater irgendwann jeden Raum einzunehmen. Er war wie die Sonne, die manchmal wunderbar strahlte und in deren Licht die Dinge wie verzaubert erschienen. Aber es gab auch Tage, an denen sich Wolken vor diese Vatersonne schoben und tödliche Unwetter verursachten. Am schlimmsten aber waren die Tage, wenn die warme Vatersonne sich in einen zornigen Feuerball verwandelte. Ich konnte nie wissen, wann und warum sich die
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