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Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Titel: Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Autoren: Meral Al-Mer
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hatte die Pille heimlich abgesetzt. Statt eines Sohnes kam ich, doch mein Vater wurde alles andere als sanfter. Kaum war sie wieder zu Hause, prügelte er Saliha die Treppe zu ihrer gemeinsamen Wohnung unter dem Dach im Haus des Familienclans hinauf und wieder hinunter, weil sie es nicht einmal geschafft hatte, einen Sohn zu gebären – so erzählten es später die Nachbarn.
    Oder stimmt das gar nicht? Hat mich Hamid vom ersten Moment an geliebt und in seine Arme geschlossen, tagelang herumgetragen und allen stolz gezeigt? Warum sonst hätte er darauf bestanden, dass ich bei ihm blieb? In dieser Geschichte gibt es so viele Wahrheiten, dass es schwer ist herauszufinden, was tatsächlich geschah.
    Mein Vater Hamid Al-Mer und mindestens sechs seiner Geschwister wurden in der Türkei geboren, in einem Dorf in der Nähe von Antakya, nicht weit von der türkisch-syrischen Grenze entfernt. Dieses Gebiet gehörte ursprünglich zu Syrien, und erst in den Sechzigerjahren ging es per Volksentscheid an die Türkei. Darum sprechen die Älteren in meiner Familie sowohl Arabisch als auch Türkisch.
    Mein Großvater Abit Al-Mer stammte aus Syrien, aus der Nähe von Aleppo. Als seine Eltern starben, nahm ihn die Familie meiner Großmutter auf, die auf der heute türkischen Seite wohnte. Mit sechzehn heiratete er Halima, seine dreizehnjährige Großcousine, mit der er aufgewachsen war, und Halima gebar ihm Kind um Kind. Die Gegend um Antakya war in den Sechziger- und Siebzigerjahren bitterarm, und darum entschloss sich mein Großvater, als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen.
    Nach einigen Zwischenstationen landete er in Hückelhoven bei Mönchengladbach, wo er Arbeit im Steinkohlebergbau fand. Später holte er seine Familie nach, und damit die Söhne gleich mitarbeiten konnten, wurden sie für älter ausgegeben, als sie tatsächlich waren. Während meine Oma Halima noch weiteren Kindern das Leben schenkte – insgesamt neun –, verfolgte mein Großvater den Plan, so schnell wie möglich viel Geld zu verdienen, um dann mit diesem Startkapital wieder zurück in die Heimat zu gehen.
    Mein Vater Hamid war der älteste Sohn des Al-Mer-Clans, und oft erzählte er mir, wie froh er gewesen war, dem armseligen Leben in Anatolien zu entfliehen. Seit ich denken kann, hing bei uns im Wohnzimmer die Reproduktion eines Gemäldes, das zwei zerlumpte Betteljungen zeigt, die sich gemeinsam am Boden sitzend über eine Melone hermachen.
    »Die beiden erinnern mich an meinen Bruder und mich«, sagte er oft, »als wir einmal eine Melone fanden.«
    Von diesem Bild hat er sich bis heute nicht getrennt, so als müsste er sich stets rückversichern, woher er eigentlich kommt, und welchem Schicksal er entronnen ist.
    Das Schicksal, das ihn in Hückelhoven erwartete, war allerdings alles andere als das, was er sich für sein Leben erträumt hatte. Was genau das war, darüber sprach er nie. Mein Vater Hamid war äußerst intelligent, und mit einer entsprechenden Schulbildung hätte er viel mehr aus seinem Leben machen können. Er lernte rasch akzentfrei Deutsch, und alles, was neu und unbekannt für ihn war, sog er in sich auf wie ein Schwamm. Mit seinem tiefschwarz glänzenden, kleingelockten Haar, das ihm wie eine Gloriole um den Kopf stand, seinem athletischen Körper und den markanten Augenbrauen, die mit seiner Nase ein entschiedenes Y zu bilden schienen, war er ein attraktiver junger Mann, eine Mischung aus Bob Marley und Tom Selleck. Er besaß einen umwerfenden Charme, sprühte nur so vor Ideen und originellen Einfällen, und die Frauen fühlten sich zu ihm hingezogen. Ja, zu dem Leben, das er sich wohl erträumte, gehörten auch Frauen, am liebsten deutsche, blonde, und stets hatte er mindestens eine solche Freundin. Und das, obwohl er seit seiner Kindheit mit Saliha verlobt war, seiner Großcousine im fernen Dorf in der Nähe von Antakya.
    Was er sich mit Sicherheit nicht erträumt hatte, das war sein überaus strenger und gewalttätiger Vater, zu dem er ein schwieriges Verhältnis hatte und der mit eiserner Hand versuchte, sein Leben zu reglementieren. Opa Abit hielt nicht nur seine Töchter unter Kontrolle, er entschied auch, mit wem seine Söhne Umgang haben durften. Nach Hause konnten sie die Freunde ohnehin nicht mitbringen, und Ausgehen war nicht erlaubt. Über jeden seiner Schritte musste mein Vater Rechenschaft ablegen. Alle fürchteten sich vor Opa Abit; er hing über den Geschwistern wie eine dunkle Wolke.
    Bei Zuwiderhandeln – und
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