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Die Entdeckung des Lichts

Die Entdeckung des Lichts

Titel: Die Entdeckung des Lichts
Autoren: Ralf Bönt
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schickten sie sonntags in der Gemeinschaft der Sandemanier Bitten gegen die Decke des kleinen Gebetshauses, von wo sie hoffentlich den Weg in den Himmel fanden.
    »Und dort«, so Margaret: »Erhörung.«
    Das ging so, bis sich nach einem schönen Frühjahr die Dürre auf das Land setzte wie ein großes, nie gesehenes Tier, das Wochen und Monate ausharrte. Sie nahm James und Margaret Faraday
ihre zwei an englisches Gras gewöhnten Rinder und eine Handvoll Schafe. Ein Tier nach dem anderen magerte ab und wurde schwach, fiel auf den braunen, staubigen Boden vor dem Haus und erhob die Rippen unter der schon blank gescheuerten Haut nicht mehr. Die restlichen Tiere wurden vorzeitig geschlachtet. Heu für Kutschpferde gab es meilenweit nicht, und so kamen keine mehr. Was James und Margaret dachten, sagte er: »Das geht vorbei.«
    Sie dachten, sie würden sich wieder hocharbeiten, wenn der Regen käme, und der käme doch, er musste ja kommen, wie er immer gekommen war.
    »Wir dürfen in unseren Gebeten nicht nachlassen«, sagte James, und Margaret meinte nichts anderes.
    Die Natur war dagegen. Sie hatte Gefallen daran, einen Superlativ auf den anderen folgen zu lassen. Nach der Dürre erlebte das Königreich einen schlimmeren Winter, als je einer überliefert worden war. Wenn James Faraday vor die Schmiede trat, um nach Kundschaft zu spähen, mischte sich der beißende Frost in seinen Bronchien zu den üblichen Schmerzen in Gelenken, Kopf und Muskeln. Er konnte nicht sagen, ob der Biss der Kälte in den Lungenspitzen eine willkommene Ablenkung war oder eine zusätzliche Belastung, während weder aus Bullgill im Norden noch aus Aisgill im Süden je ein Wagen kam oder auch nur ein einzelnes Pferd, das möglicherweise ein Eisen hätte erneuert haben müssen.
    Erst im Frühling wurde es ein wenig besser. Sie kauften ein neues Rind, nur um die Hälfte von ihm bald wieder zu verkaufen. Das Geld brauchte James dringend für Roheisen, Holz und Kohle, um die Baracke, in der er auf Kundschaft wartete, »überhaupt Schmiede nennen zu können«.
    Im Sommer darauf geschah etwas Merkwürdiges: Immer häufiger passierten Soldaten und solche, die es werden wollten, das wie hingeworfen wirkende Ensemble aus drei Häusern. Überrascht, dann einander mit fragenden Mienen ansehend, warteten Faradays, wenn die einzelnen oder in kleinen Gruppen reitenden Gestalten von Norden die Straße herunterkamen, die sich durch die ockerfarbenen und in vielen Grüntönen daliegenden Hügel Westmorlands zog wie immer. Wenn die Männer nach Süden weiterritten, sahen sie ihnen ratlos hinterher. Über Monate, in winzigen, zufälligen, einzelnen Häppchen erfuhren James und Margaret, dass der König in Frankreich die Flucht vor jenen Bürgern ergriffen hatte, die trotz Hunger noch genug Kraft hatten, bis zum berühmtesten Gefängnis in Paris zu laufen, um es zu stürmen. Frankreich war doch weit weg, dachten sie.
    »Damit der Franzose nicht hierherkommt«, erklärte ein zukünftiger Soldat lässig Tabak schnupfend auf James Faradays Frage, wohin er wolle und wieso der Aufmarsch.
    Und ein anderer, mit einem stolzen Blick, meinte von seinem Schwarzen herunter: »Damit die Engländer nicht auf dieselbe Idee kommen.«
    Immer waren sie Richtung London unterwegs, wo angeblich bereits eine Million Menschen lebten. Bis zum Winter wussten James und Margaret, dass auch solche französische Bürger bei der Erstürmung des Gefängnisses dabei gewesen waren, die satt gegessen auf ihren Pferden gekommen waren, dass das Gefängnis Bastille hieß und dass die satten Bürger genauso viel Angst vor dem Hunger der anderen gehabt hatten wie vor dem Hunger selbst.
    Anderthalb Jahre ebbte der Strom der Reiter nicht ab, und nicht jeder, der in dieser Zeit einen Schmied brauchte, bezahlte ihn auch.
    Jeden Tag spürten James und Margaret, wie sich seit der Dürre alles verändert hatte. Wenn sie in der Nacht die Kinder beruhigte, träumte er von den verendeten Tieren, die ihre kalt gewordenen Beine in die Luft hielten, dazu zu grinsen schienen und spöttische Laute von sich gaben, weil ihnen nichts mehr eine Anstrengung war. Er träumte von der ausgekühlten Feuerstelle seiner Werkstatt, von vorbeireitenden Horden schwarz maskierter Reiter, die nicht einmal mehr anhielten und immer schwerer bewaffnet waren. Irgendwann nahmen sie, bevor er aufwachte, Margaret mit.
    Aber morgens, wenn das Licht zuverlässig über den Hügel kam, konnte er nur wieder Schmied sein und sein eigener Bauer.
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