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Die Entdeckung des Lichts

Die Entdeckung des Lichts

Titel: Die Entdeckung des Lichts
Autoren: Ralf Bönt
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Wenn es nicht reichte, war es aus, und das konnte passieren. Was sollten sie darüber reden?
    »Die Kinder müssen in eine Schule«, war Margarets Meinung. Auf dem Markt hatte sie von der Wasserspülung gehört, mit der man in London die Häuser auszustatten begann, auch wenn sie daran nicht denken wollte, die zu erwähnen sie nicht in Betracht zog und an die sie vielleicht auch gar nicht glaubte. Das war es nicht.
    »Ja«, sagte James mit der kratzenden, langsamen Stimme und zwischen den Worten Luft holend: »Vielleicht gibt es in London mehr Arbeit. Bis London sind es ein paar Tage Fahrt, die uns kostet, was wir haben. Was, wenn in London nicht mehr, sondern weniger Arbeit ist?«
    James hatte die Armen in London einmal gesehen, auch wenn das lange her war. Arm sein in London war schlimmer als arm sein in Outhgill, wo es keiner merkte. In London konnte er sich auch kein Rind halten. Was er konnte, war abwarten. Aus Abwarten wurde Ausharren. Ausharren hatte er neben dem Beten und dem Schmieden und dem Abwarten jetzt auch gelernt.
    Im Winter neunzig schob sich Margaret eines Morgens mit dem Rücken an die Brust ihres Mannes, um sich zu wärmen und Trost zu holen und zu geben. Sie machten das oft so. In der Umarmung bemerkte James, dass ihre Brust sich zum dritten Mal füllte. Später am Tag sah er es auch. Er fing ihren Blick auf, schaute auf ihre Brüste und fragte freundlich: »Ja?«
    Sie bestätigte, Freude huschte dabei über ihr Gesicht, dann sah sie wieder sehr ernst aus. In den folgenden Tagen sprachen beide kaum miteinander.
    Es war Margaret, die darauf drang: »Lass uns nicht warten, bis auch dieses Kind in der Postkutsche bezahlen muss.« Es würde schon jetzt jeder mühselig auf dem Markt in Kirkby ausgehandelte Knochen nach dem Abschaben so oft ausgekocht, »dass wir uns den Geschmack einbilden«.
    Sie beteten, beratschlagten, lasen in der Bibel nach und fanden den Rat, den sie suchten. Sie zogen nach London. James fand Arbeit. Michael wurde ein Stadtkind.
    Zuerst wohnten sie in Newington südlich der Themse in zwei Zimmern, und Michael ahnte nicht, dass die Stadt irgendwo aufhörte. Statt an den Fluss zu gehen, spielte er zwischen den Pferden im Innenhof ihres Blocks oder hörte sich Gespräche an, die sich um das Handwerk drehten und die Schwierigkeit, genug Geld zu verdienen.
    Das verschwitzte, mit schwarzem Staub belegte und vom Schweiß verschmierte Gesicht seines Vaters stempelte Michaels Tage. Von der Tür der Schmiede aus beobachtete er manchmal die langsamen Bewegungen seines Vaters am Amboss, der weniger den schweren Hammer bewegte, als dass er von dem, was um ihn herum war, selber bewegt wurde: der Hitze, dem Krach, den Dämpfen und Gasen drinnen, der Kälte und Nässe draußen, dem Qualm der vielen Feuerstellen, die London unter einen Mantel aus Rauch legten, als benötigte es eine Zudecke. Man schmeckte den Qualm auf der Zunge, sah ihn schwarz beim Naseputzen und spürte ihn in den Lungen und im Hals kratzen. Von seinem Husten wurde
James Faraday auch bewegt, von den Krämpfen in seinen Händen, die spätestens am Nachmittag einsetzten und manchmal auch schon am Morgen, wenn er den Tee trank.
    Wenn er abends aus der Schmiede kam, hatte James Faraday den Blick immer schon auf den Boden gerichtet. Er hielt sich am Stuhl fest, wenn er die Schuhe und den Kittel auszog, er atmete auf eine Weise, die sich zwischen Stöhnen und Seufzen nicht entscheiden wollte, und an seinem Gesicht zerrten Schmerzen, vor denen Michael Respekt hatte, die ihm Angst machten und von denen er dennoch gern gewusst hätte, wie sie sich genau anfühlten und woher sie kamen.
    Mit besorgten und über die Jahre immer skeptischeren Blicken beobachtete Margaret die stetig matteren, kraftloseren Bewegungen, mit denen sich ihr Mann am Waschbecken die Hände schrubbte. Wenn sein jüngster Sohn unbewusst in den Blick der Mutter einfiel, strich James ihm mit einer abgetrockneten Hand wortlos über den Kopf und hustete langsam dazu. Nachts, wenn nur Margaret es hörte, ließ er seine Kopfschmerzen in schwachen, seltsamen Lauten hinaus, ohne dass man es Klagen hätte nennen müssen. Mehr Härte gegen sich selbst forderte niemand von ihm.
    Alle beteten und hungerten.
    Hatten sie keinen Hunger, dann brauchte eines der mittlerweile vier Kinder eine Jacke oder Schuhe oder am besten eine dieser warmen Hosen aus russischen Daunen, die sie bei anderen bestaunten und selber nie bekamen.
    Der Sandemanier James Boyd hatte in den Jacob’schen
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