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Die Entdeckung des Lichts

Die Entdeckung des Lichts

Titel: Die Entdeckung des Lichts
Autoren: Ralf Bönt
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Zustand undurchsichtig, im gasförmigen aber transparent oder gar farblos waren, mit dem Gesetz der Kontinuität übereinstimmen könnten. Das Gesetz hatte Lavoisier inmitten der Revolution gefunden, die ihn den Kopf kostete. In ungebeugter Haltung, geradezu förmlich, soll er sich von seiner Frau verabschiedet haben, als sie ihn zum Guillotinieren abholten, wie ein Mann also, und sein Gesetz war ebenso unbeugsam: Nach ihm verschwand nichts, alles verwandelte sich in anderes aus denselben Bestandteilen.
    Wog man zum Beispiel beim Verbrennen von Holz alle beteiligten Stoffe vorher und hinterher, das Holz, die Luft, die Abgase, dann fehlte nichts. Dieses Gesetz konnte man nachmessen, wann man wollte. Es galt. Es war selbst eine Revolution, denn es hatte die Betrachtung von Gott und der Welt, von Ursache und Wirkung, von Anfang und Ende zu verändern begonnen: Wenn es kein Ende gab, dann hatte es vielleicht auch nie einen Anfang gegeben?
    Faraday wusste das nicht, und er fragte jetzt nicht danach. Ihm hätte es genügt, zu wissen, wo die verdampften Metalle geblieben waren. Er hatte es vorhin im Laborbuch fragend notiert und dann mit abwesendem Blick die links neben dem Tisch auf dem Boden stehende unbenutzte große Batterie betrachtet, mit der er jahrelang gearbeitet hatte. Ihre Kabel und Teile des Gehäuses waren von Salpetersäure angefressen und mit dem gelben Pelz der Nitratsalze überzogen. Beim Überlegen nahm er nichts davon wahr, das heißt: beim Versuch, zu überlegen.
    Er wusste nicht, was mit den Metallen beim Verdampfen geschah, und es war kein gieriges Unwissen mehr wie damals, als er Abbott das erste Mal geschrieben hatte. Faraday stand jetzt einem erschöpften und hoffnungsarmen Unwissen gegenüber, sein Verstand war meist weit von ihm weg. Er wartete nur noch auf glückliche Zufälle. Ahnte er nicht, dass dies mit den Metallen in Zusammenhang stand?
    Dass er die Metalle einatmete, muss er erwogen haben. Dass sie ohne jede Mühe in seine Blutbahn gelangten, hat er sich nicht vorgestellt. Dass sie ohne auf den geringsten Widerstand zu stoßen durch die Bluthirnschranke schwammen, dass das Quecksilber in die Zellen eindrang und Tag für Tag mehr Enzyme und Koenzyme blockierte, dass es seine Energieversorgung über die Jahre immer weiter herabsetzte, das Immunsystem beinahe zum Stillstand brachte, Zellen tötete, Erinnerungsvermögen und Konzentration demolierte, das Nervensystem zersetzte: Er wusste es nicht.
    Dabei hätte er von der Gefahr wissen können. Eine Fahrt mit dem Dampfschiff nach Amerika, schon von dort eintreffende Zeitungen wären ausreichend gewesen, denn in Amerika war das Metall bereits verboten. Zahnärzte, die es trotzdem in Zähne füllten, warf man als Quacksalber ins Gefängnis. Davon hatte Faraday in London nicht gehört, und er wollte nicht davon hören.
    Was er wollte, war weitermachen.
    Wie jetzt mit dem Brief. Als er sich eine neue Kerze auf das Pult stellte, hatte er die Gasgesetze vergessen. Das war mehr als leicht. Um in einem Brief an Schönbein in Basel über seine Messungen und Aufzeichnungen vom Tage etwas sagen zu können, hätte er gezielt und angestrengt nachdenken müssen. Er hätte die volle Anspannung der ihm noch zur Verfügung stehenden Willenskraft aufbringen müssen, und er hätte es nicht nur mit Drehschwindel bezahlt.
    Zum Glück brauchte er die Gasgesetze für den Brief nicht. Wenn er sie morgen wieder brauchte, würde ihm schon etwas einfallen.
So würde, so musste es sein. Er würde in seinen Aufzeichnungen lesen, auf Automatismen seines Geistes und auf ein kleines bisschen Wachheit warten und auf eine Eingebung, während der Tag sich langsam ohne Ergebnis verzehrte, um nicht wiederzukommen.
    Egal.
    Lass mich bloß bei dem Brief bleiben, sagte er sich wortlos und ungenau. Er war bereit, die nächste Minute verloren zu geben und auch die übernächste. Seine Hand zitterte. Sie verschüttete Wachs. Er war jetzt dreiundfünfzig. Er hatte wenig Einfluss auf den Weg seiner Gedanken. Sie schienen zu überlegen. Wohin wollten sie denn? Was wollte er schreiben? Zum Glück war er allein, wie fast immer. Wie spät war es überhaupt? Zugleich rasend und stillstehend kam ihm die Zeit vor. Sie verstrich, während er reglos am Pult stand oder herumlief und nicht sagen konnte, wie viel Zeit vergangen war, oder was er mit ihr gemacht hatte.
    Wann war sein Gefühl für die Zeit eigentlich verschwunden?
    War es das denn?
    Egal.
    Nicht ablenken lassen.
    Jetzt! Und nicht
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