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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst
Autoren: Uwe Timm
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Sonderzuteilung. Die Bewohner sollten mit Lebensmitteln eingedeckt sein, wenn es in der Stadt zum Kampf käme. Er begann, den Kaffee zu mahlen. Sie schenkte von dem Birnenschnaps, einem gnadenlosen Schwarzbrand, 70%, zwei Gläser voll. Prost. Der wärmt auf. Den hatte ihr ein Kollege mitgebracht. Sie arbeitete in einer Kantine, in der Lebensmittelbehörde.
    Wie nahrhaft, sagte er. Nein. Nur hin und wieder gab es eine Sonderzuteilung oder mal etwas Essen, das sie aus der Kantine mitbringen konnte. Prost. Ob sie ein Radio habe?
    Ja. Aber die Röhre ist kaputt. Eine neue habe sie nicht auftreiben können. Außerdem, hören kann man nur noch selten, wenn mal Strom da ist, und dann immer dieser Dr. Baldrian. Baldrian? Ja, Staatssekretär Ahrens. Das is der Mann, der die unangenehmen Nachrichten im Radio bekanntgibt: Der Gasverbrauch muß eingeschränkt werden. Britische Terrorbomben haben das Gaswerk getroffen. Die Volksgemeinschaft findet andere Formen zu kochen. Die Brennhexe. Der kleine Ofen zum Selberbauen. Dr. Baldrian spricht langsam, hat eine ruhige, matte Stimme, nein, sanft, besänftigend. Darum sein Spitzname Baldrian. Kein Strom mehr für die Sirenen. Dann wird unsere schwere Flak fünfmal schießen, das heißt Fliegerwarnung. Wir lassen uns nicht kleinkriegen. Kein Strom mehr, heißt aber auch, daß man Baldrian nicht mehr hören kann: heldenhafter Abwehrkampf vor den Toren der Stadt.
    Sie tranken Kaffee und dazu ein zweites Gläschen Birnenschnaps. Hatte er Hunger? Natürlich hatte er Hunger. Sie könne ihm eine falsche Krebssuppe anbieten. Ein Rezept, das sie selbst entwickelt habe. Ein Gericht, sagte sie, wie falscher Hase, und band sich die Schürze um. Karotten und ein Stück Sellerie habe sie im Haus. Auch etwas von dem Tomatenmark, das der Kantine gerade geliefert worden sei. Ein Zentner Tomatenmark, ohne jeden Zusammenhang. Sie holte Karotten, drei Kartoffeln und ein Stück Sellerie aus der Kammer, setzte gut einen Liter Wasser auf, begann, die Karotten zu schälen. Also, wie war er zu dem Reiterabzeichen gekommen?
    Er kam aus Petershagen an der Weser. Sein Vater war Tierarzt und hatte zwei Reitpferde, und von dem Vater lernte er das Dressurreiten. Natürlich ist er auch ausgeritten. Dann ging es hinunter zur Weser. Da saß er ab und hatte nur den einen Wunsch, raus aus dem Kaff, möglichst weit weg, dorthin, wohin die Weser floß, zur See. Machte seine Mittlere Reife, dann eine Maschinenbaulehre und danach als Maschinenassi eine Fahrt auf einem Schiff nach Indien, unmittelbar vor dem Krieg. 39 kam er zur Marine. Nach der Grundausbildung wurde er zu einer Strandbatterie nach Sylt versetzt. Nix passierte, aber auch gar nix. Geschütz putzen. Im Ort war ein Reitstall. Hatte jede Menge Zeit. Dort legte er die Prüfung für das Reiterabzeichen ab. Kurz darauf wurde er versetzt, kam auf einen Zerstörer. Ausbildung zum Maat, dann Bootsmann. Dienst auf dem Vorpostenboot. Lena schnitt die Karotten in den Topf, gab dann den Sellerie dazu, drei kleingeschnittene Kartoffeln, sprach den Zauberspruch darüber: Sellerie, Sellerie, Sipprisa, sipprisapprisumm, schüttete das Gemüse in das kochende Wasser, salzte kräftig. So, sagte sie, nu muß das kochen, bis alles sämig ist.
    Mein Talisman, sagte er. Jedenfalls bis jetzt, denn wahrscheinlich war der Offizier durch dieses Reiterabzeichen darauf gekommen, ihn einer Panzerjagd-Einheit zuzuteilen. Sie gehen da doch ran wie Ziethen aus dem Busch. Der reine Irrsinn. Sie war ganz darauf konzentriert, den Kaffee einzugießen, dieser Duft. Sie sah, wie sich im Filter dunkelbraun der Schaum an den Rändern hochwölbte, die kleinen helleren Blasen verwandelten sich in Duft.
    Waren Sie bei Ihrer Frau?
    Nein, bei den Eltern, danach noch in Braunschweig.
    Und Sie? Ihr Mann? Ist er an der Front?
    Weiß nicht, sagte sie. Hab ihn vor fast sechs Jahren zuletzt gesehen. Wurde gleich 39 eingezogen. Hat ne andere Frau kennengelernt, in Tilsit. Er war in der Etappe. Hin und wieder schreibt er mal.
    Vermissen Sie ihn?
    Was sollte sie sagen? Sie hätte sagen können – und das wäre die Wahrheit gewesen: Nein. Aber das hätte sich für ihn wie eine Aufforderung anhören müssen.
    Kann ich nicht ja und nicht nein sagen. Er war Barkassenführer, später Fernlastfahrer. Aber egal, sagte sie, jetzt ist er irgendwo. Der kommt durch. Ist kein Held. Wahrscheinlich spielt er Krankenschwestern was auf dem Kamm vor. Das kann er. Kann die Leute um den Finger wickeln, nicht nur Frauen. Aber das
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