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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst
Autoren: Uwe Timm
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hörte, wie er zur Toilette ging, pinkelte, sich wusch. Er kam zurück. Sie lag, mit dem Arm aufgestützt, im Bett und beobachtete, wie er sich, ohne etwas zu sagen, ohne zu ihr hinüberzublicken, die graue Unterhose anzog, das Unterhemd, das Hemd, dann die blaue Hose. Er ging durch die Wohnung, als suche er etwas, öffnete die Türen, blickte in die Kammer, in die beiden großen Schränke, aus den Fenstern auf die dunkle Straße hinunter, von der man nur ein kurzes Stück sehen konnte. Das gegenüberliegende Haus war etwas niedriger. Er stand da, starrte in die Dunkelheit und dachte daran, wie sie ihn in den letzten beiden Tagen in das Panzerfaustschießen eingewiesen hatten. Ein Oberfeldwebel mit Ritterkreuz, am Ärmel acht Fähnchen, also acht Panzer mit Hand geknackt. Eine Gruppe von Volkssturmmännern, zwei Militärmusiker, zwei Stabsgefreite, Schreiber von irgendwelchen Stäben, ein paar Marinesoldaten und viele Hitlerjungen. Kinderleicht, hatte der Oberfeldwebel gesagt, die Panzerfaust. Man muß nur ruhig bleiben, kaltblütig, die Panzer auf fünfzig Meter herankommen lassen, dann die Panzerfaust auf die Schulter, Objekt ins Visier nehmen, gut festhalten, Luft anhalten, abfeuern, aber aufpassen, daß keiner hinter euch steht, der wird sonst wie ein Hähnchen gebraten. Bremer hatte eine Panzerfaust auf eine Ruinenmauer abgeschossen. Das Geschoß explodierte in dem angegebenen Bereich, Ziegelbrocken spritzten herum. Gut, sagte der Ausbilder, der Panzer wäre jetzt Schrott. Nur daß Panzer nicht wie die Mauern in der Landschaft standen. Panzer fuhren. Es waren meist mehrere. Und sie schössen. Es waren, je näher sie einem kamen, dröhnende, riesige, ungeheure Stahlkolosse. Also mußte man lernen, ein Ein-Mann-Loch zu graben. Der Ausbilder zeigte, wie man ein solches Loch, das von den Panzerschützen nur schlecht gesehen werden konnte, aushob. Wie man sorgfältig Zeitungen um das Loch legte, die Erde daraufhäufte, um sie später wegzutragen. Dunkle, aufgeworfene Erde, auch nur ein kleiner Rest, verriet die Stellung des Schützen. Darauf konzentrierte sich sofort das Panzerfeuer. Und dahin fuhren die Panzer. Erst später, nach der Instruktion, als die Hitlerjungen nach Hause gegangen waren, hatte der Ausbilder den Kameraden von der Marine erzählt, was passieren kann, wenn die Panzer kommen. Er hatte es bei seinem Freund erlebt, sagte er, trank von dem dänischen Aquavit, der aus einem freigegebenen Verpflegungslager stammte, dann, sagte er, sitzt man in diesem kleinen Loch, und der Panzer fährt über das Loch und dreht mal mit der rechten, mal mit der linken Kette und gräbt sich so ein, dann sitzt du in deinem selbstgebuddelten Grab, siehst den Stahl näher kommen. So. Prost, sagte er, auf diesen stählernen Himmel.
    Komm, sagte sie, als er zurückkam, und streckte ihm die Hand entgegen. Bremer zog sich Hose, Hemd und Unterhemd aus, ergriff die hingestreckte Hand und stieg in das schaukelnde Bett. So wurde er, Hermann Bremer, ein Bootsmann, fahnenflüchtig.

2
     
     
    Was dachte Hermann Bremer, als er wieder zu Lena Brücker ins Bett stieg? Hatte er Angst? Gewissensbisse? Zweifel? Dachte er, ich bin ein Verräter, ein Kameradenschwein? Mit jedem Kreisen des Sekundenzeigers auf dem Leuchtziffernblatt seiner Uhr entfernte er sich, den Kopf auf Lena Brückers Schulter gebettet, weiter von der Truppe, ließ Kameraden im Stich, die jetzt auf Lkws stiegen, die Motoren wurden angelassen, ein Rütteln, der Gestank nach Dieselqualm, auf der Ladefläche hockten sie, warteten. Der Oberleutnant blickte – wie Bremer –  auf die Uhr, etwas draufwarten noch, die Soldaten saßen da, stumm, einige rauchten, einige schliefen, die Feldplanen über den Kopf gezogen: Volkssturmmänner, Marinesoldaten, die beiden Militärmusiker, kalt war es, und noch immer fiel Regen. Der Oberleutnant hob den Arm in die Luft, stieg in den ersten Laster. Die vier Laster fuhren an, Richtung Elbbrücken, Harburg, Buchholz. Dort hatten Kinder, Frauen und alte Männer schon Schützengräben ausgehoben, Schützengräben, die ich ein paar Jahre später als Kind zusammen mit anderen Kindern absuchte. Wir hoben mit einem Spaten etwas von dem von den Rändern in den Graben gestürzten Erdreich heraus und fanden verbeulte Kochgeschirre, Feldflaschen, verrostete Stahlhelme, Patronen, Seitengewehre, hin und wieder auch einen Karabiner. Georg Hüller fand sogar einmal ein MG 42, die Hitlersäge, und ein andermal ein bis auf den silbernen Rand verrostetes
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