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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst
Autoren: Uwe Timm
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Eisernes Kreuz. Daran hingen keine Uniformreste, es fand sich auch keine Spur von einem Skelett. Der Orden lag zwischen verrosteten Koppelschnallen, Karabinerhaken, Gasmasken, Patronen und Feldflaschen, aus denen noch eine bräunliche, an Tee erinnernde Flüssigkeit tropfte. Abfall eines zu Ende gehenden Krieges. An dieser wie auch an anderen Linien sollte es nicht mehr zum Endkampf kommen, ein Geplänkel, ein, zwei Scharmützel nur, dann zogen sich die Deutschen, die längst keine Einheiten mehr waren, zurück.
    Das konnte Bremer aber nicht wissen. Bremer hatte Angst; er hatte Angst, bei Lena Brücker zu bleiben, und er hatte Angst, an die Front zu gehen. Er hatte diese Wahl: zu desertieren und dann möglicherweise wegen Fahnenflucht von den eigenen Leuten an die Wand gestellt zu werden oder an die Front zu gehen und dann von einem englischen Panzer zerfetzt zu werden. Bei beiden Alternativen zählte eben nur dies: heil durchzukommen. Aber welche bot die größeren Chancen? Das war die Frage, und die Suche nach Antwort brachte ein unruhiges Hin- und Herwälzen im Kopf wie im Bett.
    Als er vor zwei Wochen seinen bewilligten Urlaub in Braunschweig beendet hatte und nach Kiel zurückgefahren war, war er ausgerechnet in Plön hängengeblieben. Hatte sich dort bei der Kommandantur gemeldet, seine Marschpapiere gezeigt. Für das Überleben im Krieg, gerade in seiner Endphase, in der sich alles auflöste, wurde die Wahrung bürokratischer Formen immer wichtiger. Es war notwendig, nachzuweisen, wo man sich wann, wie und wohin bewegte, um nicht vor irgendein Fliegendes Standgericht zu kommen. Ihm wurde ein Quartier in der Turnhalle einer Schule zugewiesen, in der ein Divisionsstab untergebracht war. Frühmorgens war er von Gebrüll wach geworden, Kommandos, genagelte Stiefel marschierten über den Korridor. Er hatte sein Rasierzeug genommen und war auf den Korridor gegangen. Dieser Schulgeruch war ihm widerwärtig, ein Geruch nach Bohnerwachs, Schweiß und Schülerangst. Auf dem Korridor kamen ihm drei Soldaten entgegen, zwei trugen Gewehre, der in der Mitte, ein noch junger Mann, vielleicht achtzehn oder neunzehn, hielt die Hände auf dem Rücken, und – das fiel Bremer sogleich auf – der Mann hatte die Uniform nicht richtig zugeknöpft, und er hatte einen Strohhalm im ungekämmten Haar. Die drei kamen auf ihn zu, keiner der drei, alles einfache Soldaten, machte Anstalten, vor ihm, dem Bootsmann, immerhin der Rang eines Feldwebels, beiseite zu treten, so daß er gezwungen war, sich an die Wand zu drücken, um sie vorbeigehen zu lassen. Der Mann, nein, der Junge in der Mitte blickte beim Gehen vor sich auf den Boden, als suche er etwas, auf der Höhe Bremers hob er den Kopf und blickte zu ihm, ein Blick nur, nicht ängstlich, nicht entsetzt, nein, ein Blick, der ihn, Bremer, regelrecht einzusaugen schien, dann senkte der Junge seine Augen wieder, als müsse er darauf achten, nicht zu stolpern. Die Hände waren auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt. Während Bremer sich unter einem für ihn viel zu niedrigen, weil für Kinder bestimmten Wasserhahn wusch, dachte er, das wird jetzt ausgelöscht, was der Blick festgehalten hat –  also auch ich. Später, auf dem Abtritt hockend, hörte er die Salve.
    In seinem Kopf, der auf der weichen Schulter von Lena Brücker lag, bewegte er die Fragen: Liegen bleiben oder aufstehen? Sollte er nicht versuchen, im letzten, im allerletzten Augenblick loszulaufen, nicht, weil er an seinen Fahneneid dachte, weil er es für unwürdig hielt, sich einfach zu verdrücken, sondern weil er seine Überlebenschancen abwog, hier zu bleiben und abzuwarten, bis der Krieg zu Ende war, oder sich in der Landschaft, irgendwo in der Lüneburger Heide, seitwärts in die Büsche zu schlagen, sich dann vom Engländer gefangennehmen zu lassen, was, wie er gehört hatte, weit schwerer war, als man vermuten sollte. Man tritt von einem Ordnungssystem in ein anderes, feindliches, über. Das führte leicht zu Mißverständnissen, tödlichen. Oder sollte er hier das Kriegsende abwarten, auf die Gefahr hin, entdeckt und erschossen zu werden? Zumal er von jetzt an auf Gedeih und Verderb von dieser Frau, die er erst seit ein paar Stunden kannte, abhing.
     
    Gegen Mittag wachte er von einem ziehenden Schmerz im Kopf auf. Er wusch sich in der Toilette über dem Waschbecken, hielt den Kopf lange unter das kalte Wasser. Er zog sich die Uniform an. Im Spiegel sah er sich, das Band vom EK II, das Narvikschild und das
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