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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst
Autoren: Uwe Timm
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silberne Reiterabzeichen. Er dachte, das könne ihm, falls er jetzt entdeckt würde, auch nicht mehr helfen. Er hatte etwas Endgültiges getan, das heißt, genaugenommen hatte er nichts getan. Ich bin in eine Richtung gegangen, und ich kann nicht mehr umkehren in dieser Dachwohnung. Die würde er erst verlassen können, wenn die Engländer die Stadt eingenommen hätten. Am Küchenfenster stehend blickte er durch die Gardine hinunter. Eine stille, schmale Straße ohne jedes Grün lag da unten, und, diese kreuzend, ein Gang. Hin und wieder sah er unten Frauen vorbeigehen, die Eimer trugen, leer, wenn sie die Straße hinuntergingen, kamen die Frauen zurück, schwappte Wasser aus den Eimern. In der Straße mußte es also einen Hydranten geben. Einmal ging ein älterer Soldat über die Straße, ein Landwehrmann, mit Gamaschen über den Schnürstiefeln, am Koppel hing der Brotbeutel, die Feldflasche, wie der latschte, krumm, plattfüßig und auch noch über den großen Onkel. Auf dem Rücken trug er einen altertümlichen Karabiner, wenn Bremer es recht erkannte, einen polnischen Beutekarabiner. Ein Hauptmann kam ihm entgegen, und die beiden trafen sich ziemlich genau auf der Mitte der Straße. Der Landwehrmann hob nur kurz die Hand, nicht mal zur Mütze, eine lasche Geste, die nur andeutete, was sie sein sollte, ein militärischer Gruß. Und der Hauptmann, in einem langen grauen Mantel, knapp auf Taille geschnitten, wahrscheinlich von einem Uniformschneider genäht, stauchte den Mann nicht zusammen, sagte nicht: Mann, nehmen Sie gefälligst die Knochen hoch, die flache Hand wird an den Mützenrand geführt, den sie leicht berührt, und zwar soll die Handkante in einem Winkel von 70 Grad und so weiter, nein, der Hauptmann ging vorbei und nickte nur. In der Rechten aber hatte er ein Einkaufsnetz, darin Kartoffeln. Ein Hauptmann, der auf der Straße ein Einkaufsnetz mit Kartoffeln trug – kein Zweifel: Der Krieg war verloren.
    Wie still die Stadt war. Manchmal hörte er Stimmen. Kinder, die spielten. Und hin und wieder, fern, Geschützfeuer. Dort, im Südwesten, war die Front. Dann entdeckte er die Frau. Sie stand unten in einem Hauseingang, eine junge Frau, in einem braunen Mantel. Auffallend an ihr waren die hellen Seidenstrümpfe, die man im sechsten Kriegsjahr nur noch selten zu sehen bekam. Fleischfarbene Seidenstrümpfe. Bremer ging durch die Wohnung, sah sich den Wohnzimmerschrank an, Birke, poliert, der Mittelteil: bräunliche Glasscheiben, in Blei gefaßt. Im Schrank standen einige farbige Weingläser, geschliffen, burgunderrot. Ein Tisch mit dunkelgebeizten Stühlen. Die Möbel hätten auch in irgendeiner großen teuren Wohnung stehen können. In einem hölzernen Zeitschriftenständer lagen mehrere Illustrierte. Er blätterte sie durch, sah Fotos von Ereignissen, die Monate, Jahre zurücklagen. Panzer vor Moskau. Kapitänleutnant Prien mit Ritterkreuz am Hals. Sauerbruch besucht ein Kriegslazarett. Bremer fand Kreuzworträtsel und begann, eines zu lösen. Zwischendurch stand er immer wieder auf und sah hinunter auf die Straße. Die Frau stand noch dort. Kinder liefen vorbei, und immer wieder Frauen mit Wassereimern, leeren wie vollen. Hin und wieder mal ein Mann, einmal ein Gefreiter auf einem Fahrrad, wahrscheinlich ein Melder. Nach gut einer Stunde ging die Frau weg. Eine alte und eine junge Frau schoben eine Schottsche Karre, darauf lag zerborstenes Trümmerholz. Bremer las einen Bericht über das Afrikakorps. Die Illustrierte war drei Jahre alt. Ein Bericht aus einer fernen Welt. Deutsche Soldaten brieten sich in der afrikanischen Sonne auf dem Stahlblech ihrer Panzer Spiegeleier. Ein Foto zeigte unter Palmen den General Rommel. Deutsche Truppen auf dem Vormarsch zum Suez-Kanal. John Bull angeschlagen, lautete eine Unterschrift. Ein verwundeter englischer Soldat, den ein deutscher Sanitäter verbindet. Im Hintergrund ein abgeschossener Panzer, aus dessen Luke dunkler Qualm dringt. Jetzt steht John Bull an der Elbe, dachte Bremer.
    Er hörte ein Motorgeräusch und lief zum Fenster. Unten fuhr im Schrittempo ein Kübelwagen vorbei. In dem Wagen saßen drei SS-Soldaten. Der Wagen hielt. Der Fahrer winkte eine Frau heran und sprach sie an. Die Frau zeigte mal dahin und mal dorthin. Und dann in die Richtung auf das Haus, in dessen oberstem Stock, hinter dem Fenster, er stand. Der Kübelwagen setzte langsam zurück. Es war der Augenblick, von dem Bremer später Lena Brücker erzählte, daß er vor Schreck beinahe zur
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