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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Getto geschah, ungewöhnlich gut dokumentiert ist, weist das Geschehen Lücken auf, für die es kaum glaubhafte Zeugnisse gibt. Dies gilt beispielsweise für die Ereignisse während der »
szpera -Tage
«, als Rumkowski es vorzog »auszufallen« und die Verhandlungen mit den Behörden stattdessen Dawid Gertler überließ. Auch der nähere Sachverhalt der durch Rumkowski erfolgten Adoption eines der Getto-Waisenkinder und sein Verhältnis zu diesem Kind sind kaum dokumentiert. Dass Rumkowski sich systematisch an den Kindern seines Waisenhauses vergriff, ist im Hinblick auf die Umstände erstaunlich gut belegt. In ihrem Buch
Rumkowski and the Orphans of Łódź
(1999) deutet Lucille Eichengreen diese Übergriffe, deren Zeugin und Opfer sie selbst wurde, nicht so sehr als Ausdruck von Rumkowskis sexueller Orientierung, sondern vielmehr als ein Zeichen seines ständigen Bedürfnisses, seinen Machtanspruch und seine Autorität auf allen Ebenen des Gettos zu behaupten. In einer Welt, in der es keine anderen Alternativen als die Unterwerfung gab, ist die Rolle der Sexualität zwar schwer zu präzisieren, doch sollte man sie |647| nicht unterschätzen. Věra Schulz’ Formulierung in ihrem fingierten Tagebuch, Rumkowski sei »ein Monster«, ist in Wahrheit Eichengreens Buch entnommen. Ähnlich bin ich mit vielen anderen Zeugenaussagen verfahren. Die lange Schilderung der ersten Begegnung der sogenannten »Westjuden« mit dem Łódźer Getto stammt beispielsweise zu großen Teilen aus Oskar Rosenfelds Darstellung seines Weges vom Bahnhof Radogoszcz ins Gettoinnere:
Wozu noch Welt: Aufzeichnungen aus dem Getto Łódź
(1994).
    Im Gegensatz zu Rosenfeld, dessen Anonymität im Roman stets gewahrt wird, treten in diesem Buch die meisten Beamten und Funktionäre von Bedeutung mit ihrem richtigen Namen auf. Dies geschieht in erster Linie, weil ihre Taten und Untaten derart gut dokumentiert sind, nicht zuletzt durch die in der Chronik und der Enzyklopädie enthaltene Darlegung ihrer persönlichen Hintergründe und ihres Handelns; der Versuch, ihre Namen zu fingieren, hätte wie eine überflüssige Maskierung gewirkt. Obendrein bin ich der Ansicht, dass die Art der Ereignisse, die zwischen 1940 und 1944 in Łódź stattgefunden haben, eine solche Maskierung moralisch zweifelhaft macht.
     
    Zuletzt ein paar Worte zum Bild auf dem Umschlag dieses Buches. Die Fotografie ist eine von insgesamt vierhundert, die vom Leiter der Finanzabteilung in der deutschen Gettoverwaltung, einem Österreicher namens Walter Genewein, aufgenommen wurden. Genewein benutzte für seine Fotos einen Farbfilm – für die damalige Zeit äußerst ungewöhnlich –, den er direkt bei den Schweizer Labors der IG Farbenindustrie bestellt hatte. Niemand wusste von der Existenz dieser Bilder, bis 1988 ein Angehöriger des gerade verstorbenen Genewein die Negative in einem Wiener Antiquariat zum Verkauf anbot. Genewein, ein überzeugter Nationalsozialist, war im Prinzip seit der Gründung des Gettos dort für den deutschen Verwaltungsapparat tätig gewesen, so dass man davon ausgehen kann, dass es sich bei den Fotos um Auftragsarbeiten handelt. Jemand innerhalb der Verwaltung, vielleicht Biebow persönlich, hatte dem Amateurfotografen Genewein den Auftrag erteilt, die Realität des Gettos zu dokumentieren. Das Auffällige an diesen Bildern aber ist, wie wenig sie von der
eigentlichen
Wirklichkeit des |648| Gettos zeigen; wie wenig vom Hunger, den Krankheiten, der Not und Armut. Auch der im Getto allgegenwärtige Tod ist bei Genewein lediglich durch eine Art Stilisierung von Wolken und sich über verfallene Häuser und Werkstätten erstreckenden Straßenbahnoberleitungen zu sehen.
    Was wir stattdessen auf den Bildern erblicken, ist das Getto, wie Genewein und die anderen Nazifunktionäre es selbst sahen – oder wie sie sich einredeten, dass es aussehen würde, wenn man dessen Geschichte im Nachhinein schrieb. Es sind die
künftigen
Betrachter, für die diese Bilder gedacht waren, ebenso wie sich die Verfasser der Chronik und der Gettoenzyklopädie (wenn auch aus gänzlich anderen Motiven) mit ihren Tagebucheinträgen und Miniaturbiographien an »spätere« oder »mit der Gettowirklichkeit nicht vertraute« Leser wenden. Und doch gibt es nichts in Geneweins Bildern, das darauf schließen lässt, dass er die von ihm abgebildete Wirklichkeit absichtlich arrangieren oder verschönern ließ. So wie das Getto auf seinen Bildern aussah, so sah er es gewiss auch selbst. Aus
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