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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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arbeitsfähige Juden aus dem Getto herausgeholt und in die Arbeitskasernen gebracht werden sollen.
    Die Erstellung des Gettos ist selbstverständlich nur eine Übergangsmaßnahme. Zu welchen Zeitpunkten und mit welchen Mitteln das Getto und damit die Stadt Lodsch von Juden gesäubert wird, behalte ich mir vor. Endziel muss jedenfalls sein, dass wir diese Pestbeule restlos ausbrennen.
     
    gez. Uebelhoer

|9| Prolog
Der Judenälteste allein
    (1. – 4. September 1942)

 
    |11|
Alles, was dir vor Handen kommt zu tun, das tue frisch;
    denn bei den Toten, dahin du fährst, ist weder
    Werk, Kunst, Vernunft noch Weisheit.
    Prediger 9,10

 
    |13| Es war der Tag, für ewig ist er dem Gettogedächtnis eingegraben, als der Judenälteste der Menge mitteilen ließ, ihm bliebe keine andere Wahl, als die Kinder und Alten des Gettos gehen zu lassen. Noch am Nachmittag vor dieser Bekanntgabe hatte er in seinem Büro am Bałucki Rynek gesessen und auf das Eingreifen höherer Mächte gewartet, gehofft, dass sie ihn retten mögen. Zu jenem Zeitpunkt hatte er sich bereits gezwungen gesehen, die Kranken des Gettos herzugeben. Nun standen nur noch die Alten und Kinder aus. Herr Neftalin, auf dessen Anordnung die Kommission ein paar Stunden zuvor erneut zusammengetreten war, hatte ihm versichert, dass alle Listen bis spätestens Mitternacht aufgestellt und der Gestapo übergeben sein mussten. Wie sollte er ihnen nur erklären, welch ungeheuerlichen Verlust das für ihn persönlich darstellte?
Sechsundsechzig Jahre lebe ich nun schon und bin des Glücks, mich Vater nennen zu können, noch immer nicht teilhaftig geworden, und jetzt verlangen die Behörden von mir, dass ich all meine Kinder opfere.
    Hatte auch nur einer daran gedacht, wie es ihm in diesem Augenblick erging?
    (»Was soll ich ihnen sagen?«, hatte er Doktor Miller gefragt, als die Kommission am Nachmittag zusammengetreten war, und Doktor Miller hatte sein zerquältes Gesicht über den Tisch geschoben, und auch der seitlich von ihm sitzende Richter Jakobson hatte ihm tief in die Augen geblickt, und beide hatten übereinstimmend erklärt:
    Sag ihnen die Wahrheit. Wenn nichts anderes möglich ist, musst du ihnen die Wahrheit sagen.
    Aber wie kann es eine
Wahrheit
geben, wenn es kein
Gesetz
gibt, und wie kann es ein
Gesetz
geben, wenn es die
Welt
nicht mehr gibt?)
    Den Widerhall der Stimmen der sterbenden Kinder im Kopf, griff der Älteste nach dem Jackett, das Fräulein Fuchs für ihn am Haken an |14| der Barackenwand aufgehängt hatte, führte den Schlüssel zittrig ins Schloss und bekam die Tür mit knapper Not auf, bevor ihn die Stimmen erneut überfielen. Doch vor der Tür seines Büros wartete kein
Gesetz
, auch keine
Welt
; nur jene, die von seinem persönlichen Stab noch übrig waren, ein halbes Dutzend übernächtigter Büroangestellter mit dem unermüdlichen Fräulein Fuchs an der Spitze, an diesem Tag ebenso proper wie stets gekleidet, in frischgebügelter, blau-weiß gestreifter Bluse, die Haare zum Knoten hochgenommen.
    Er sagte:
     
    Wenn der Herr die Absicht gehabt hätte, diese seine letzte Stadt untergehen zu lassen, hätte er es mich wissen lassen. Oder mir zumindest ein Zeichen gegeben.
     
    Sein Stab aber starrte ihn nur verständnislos an:
     
    Herr Präses
, sagten sie,
wir sind bereits eine Stunde verspätet.
    *
    Die Sonne war, wie stets im Monat Elul, eine Sonne, die dem Anbrechen des Jüngsten Gerichts glich, eine Sonne, die die Haut wie mit tausend Nadeln durchbohrte. Der Himmel war schwer wie Blei, nicht der geringste Windhauch herrschte. Eine Menge von fünfzehnhundert Menschen hatte sich auf dem Feuerwehrplatz versammelt. Der Judenälteste hielt seine Reden häufig hier. Dann waren die Leute stets aus Neugier gekommen. Sie waren gekommen, um den Präses über seine Zukunftspläne reden zu hören, über die bevorstehenden Lebensmittellieferungen und die zu erwartende Arbeit. Diejenigen, die heute gekommen waren, hatten sich nicht aus Neugier versammelt. Neugier hätte kaum genügt, die Leute dazu zu bringen, die Warteschlangen vor Kartoffeldepots und Verteilungsstellen zu verlassen und den langen Weg zum Feuerwehrplatz zurückzulegen. Keiner war gekommen, um Neuigkeiten zu erfahren, sie waren gekommen, um das Urteil zu hören, das über sie verhängt werden sollte – ein Urteil auf lebenslänglich oder, Gott verhüte, ein Todesurteil. |15| Väter und Mütter waren gekommen, um zu hören, welches Urteil über ihre Kinder gefällt würde. Greise und
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