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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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zu geraten oder auch nur im Geringsten zu zögern. Stromka schien es in vollen Zügen zu genießen, in diese vollendete Welt hineinzublicken, doch was er an deren Außenseite sah, hasste er.
     
    Es gab auch eine andere Geschichte – die aber erzählte der Älteste weniger gern:
    Die Stadt Iliono, in der er aufgewachsen war, lag am Fluss Lovať nahe |24| der Stadt Welikije Luki, um die später im Krieg zahlreiche heftige Kämpfe ausgefochten wurden. Die Stadt bestand zur damaligen Zeit fast ausschließlich aus schmalen, windschiefen Holzhäusern, die dicht an dicht errichtet waren. Auf den flachen Hängen zwischen den Häusern, die im Frühjahr, wenn der Regen kam und der Fluss über die Ufer trat, zu unförmigen Lehmflächen anschwollen, gab es Platz für kleine Anpflanzungen. Die hier wohnenden, hauptsächlich jüdischen Familien handelten mit Stoffen und Kolonialwaren, die mit Fuhrwerken sogar aus Wilna und Witebsk kamen. Die Gegend war arm, die Synagoge aber glich einem orientalischen Palast mit zwei soliden Eingangssäulen; alles aus Holz.
    Am Flussufer lag das Badehaus. Dem Badehaus gegenüber lag ein steiniger Strand, den die Kinder häufig nach der Talmudschule aufsuchten. Der Fluss war hier seicht. Den Sommer über erinnerte er an das gelblichbraune Brunnenwasser, das seine Mutter, wenn sie Wäsche wusch, auf die Vortreppe des Hauses stellte und in das er seine Hand mit Vorliebe eintauchte – es war warm wie sein eigener Urin.
    Bei Niedrigwasser wurde auch eine kleine Insel freigelegt, eine flache Sandbank in der Mitte des Stroms, auf der Vögel standen und nach Fischen Ausschau hielten. Der Boden aber war tückisch. Jenseits der »Insel« fiel der schlammige Flussgrund wieder ab, und es wurde sofort tief. Dort war ein Kind ertrunken. Es war passiert, lange bevor er selbst auf die Welt gekommen war, im Ort aber sprach man nach wie vor darüber. Vielleicht war das auch der Grund, warum seine Schulkameraden so gern hierhergingen. Jeden Nachmittag wetteiferten ganze Rudel von Kindern, wer sich zur Insel hinauswagte, die frei und bloß in der Mitte der Flussströmung lag. Er erinnerte sich, dass einer der Jungen fast bis zur Taille hinausgewatet war und mit erhobenen Ellenbogen im aufgewühlten, sonnenglitzernden Wasser stand und den anderen zurief, sie sollten ihm rasch nachkommen.
    Soweit er noch wusste, war er selbst nicht unter diesen Jungen, die dann lachend durchs Wasser pflügten.
    Vielleicht hatte er sich angeboten, bei dem Spiel mitzumachen, war aber abgewiesen worden. Vielleicht hatten sie (wie so oft) gesagt, er sei zu dick; zu tolpatschig; zu hässlich.
    |25| Da war ihm eine Idee gekommen:
    Er hatte beschlossen, zu Stromka zu gehen und ihm zu erzählen, was die anderen taten. Im Nachhinein war ihm nur dunkel bewusst, wie er sich die Sache vorgestellt hatte. Durch sein Petzen würde er bei Stromka eine gewisse Anerkennung finden, und wenn er die erst hatte, würden die anderen es nicht mehr wagen, ihn von ihren Spielen auszuschließen.
    Es folgte ein kurzer Augenblick des Triumphs, als der blinde Stromka, den langen Stock vor sich hin- und herpendelnd, zum Fluss herabgeeilt kam. Dieser Augenblick des Triumphs währte indes nur kurz. Stromkas Gunst jedenfalls schien er nicht gewonnen zu haben. Hingegen starrte ihn das böse Auge von da an mit vielleicht noch größerer Tücke und Verachtung an. Die anderen Kinder gingen ihm aus dem Weg. Tag für Tag, wenn er zur Schule kam, standen sie flüsternd abseits. Eines Nachmittags, als er auf dem Heimweg war, folgten sie ihm auf allen Seiten. Er war umringt von einem Haufen rufender, lachender Kinder. Später würde er sich genau daran erinnern. An dieses plötzliche Glücksgefühl, das ihn durchfuhr, als er glaubte, akzeptiert, in ihren Kreis aufgenommen zu sein. Obgleich er sofort begriffen hatte, dass ihr Lächeln und ihr kameradschaftliches Schulterklopfen irgendwie steif und unnatürlich wirkten. Sie spielten und scherzten, forderten ihn auf, ins Wasser hinauszuwaten, sagten im selben Augenblick jedoch, er würde sich ja doch nicht trauen.
    Dann geht alles ungeheuer schnell. Er steht bis zur Taille im Wasser, und hinter ihm am Strand bücken sich die Jungen in seiner Nähe nach Steinen. Und bevor er noch begreift, was geschieht, hat ihn der erste Stein an der Schulter getroffen. Ihm wird schwindlig, im Mund verspürt er Blutgeschmack. Er schafft es nicht einmal kehrtzumachen, um aus dem Wasser zu rennen, bevor der nächste Stein geflogen kommt. Er
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