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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Weshalb denn?
    Der erste:
Man hat deinen Bruder festgenommen, weil er Wechsel gefälscht hat.
    Der zweite:
Hat mein Bruder Wechsel gefälscht? Das ist ja nichts Neues.
    Der erste:
Hab ich doch gesagt, nichts Neues aus Insterberg.
     
    Alle im Saal bogen sich vor Lachen außer Józef Rumkowski. Der Bruder des Ältesten war der Einzige im Saal, der nicht begriff, dass der Witz von ihm handelte.
    Es wurden auch Späße über Rumkowskis junge Frau Regina und deren unverbesserlichen Bruder Benji gemacht, von dem es hieß, der |29| Älteste habe ihn in der Klapsmühle an der Wesoła einschließen lassen, weil er »zu viel Theater gemacht hatte«; mit anderen Worten, weil er dem Präses Sachen ins Gesicht gesagt hatte, die der nicht hören wollte.
    Die beliebtesten Geschichten handelten indes von Helena, der Schwägerin des Ältesten. Die erzählte Mojsze Pulaver persönlich, als er dort am Bühnenrand stand, die Hände frech in den Hosentaschen vergraben. Allein schon, dass er sie die Prinzessin von Kent nannte.
Wer hot si gekent un wer wil si kenen?
, fragte er, und plötzlich war die Bühne voller Schauspieler, die, eine Hand über den Augen, nach der verschwundenen Prinzessin Ausschau hielten:
Prinzessin von Kent? Prinzessin von Kent?
Das Publikum jubelte und zeigte auf die erste Reihe, in der Prinzessin Helena puterrot unter ihrer kessen Hutkrempe saß.
    Die übrigen Schauspieler spähten weiter ins Publikum:
    Wo ist sie? Wo ist sie?
    Ein anderer Schauspieler kam auf die Bühne, schamlos imitierte er den watschelnden Gang der Prinzessin. Ins Publikum gewandt teilte er mit, es sei ein Notruf von der Feuerwache in Marysin eingegangen. Ein ungewöhnliches Anliegen: Eine Frau habe sich daheim eingeschlossen und weigere sich, aus dem Haus zu gehen. Von ihrem Mann ließ sie sich das Essen bringen. Sie aß und aß, und als sie endlich zum Abort musste, war sie derart aufgequollen, dass sie nicht durch die Tür kam. Die Feuerwehr musste ausrücken und sie durchs Fenster heben.
    DAS WAR ALSO DIE UNBEKANNTE PRINZESSIN VON KENT!
    Worauf das gesamte Ensemble auf die Bühne stürmte, sich bei den Händen fasste und ein Lied anstimmte:
     
    S’is kaj dankeskajtn,
    S’is gite zajtn
    Kajner tit sich hajnt nischt schemen
    Jeder wil do hajnt nor nemen;
    Abi zi sajn do satt
1
     
    |30| Das war das bösartigste und unverschämteste Gesangs- und Tanzstück, das Herr Pulaver bisher in Worte gefasst hatte. Einer Majestätsbeleidigung so nahe, wie man ihr nur kommen konnte, typisch für die in den vergangenen Monaten im Getto herrschende Stimmung voll von Chaos und Verdrossenheit. Obgleich der Präses versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und an den richtigen Stellen zu applaudieren, empfand auch er deutlich Erleichterung, als das Stück zu Ende war und die Musiker wieder auf die Bühne zurückkehrten.
    Fräulein Bronisława Rotsztad beendete das Ganze mit einem raumgreifenden Scherzo von Liszt und zog mit ihrem gut geharzten Bogen einen Strich unter die ganze beklemmende Veranstaltung.
    *
    Am Morgen darauf, es war Dienstag, der 1. September 1942, wartete Kuper wie gewöhnlich mit dem Wagen vor der Sommerresidenz in der Karola Miarki, und wie stets stieg der Älteste mit einem kaum hörbaren Grunzen als einzigem Gruß bei ihm ein. WAGEN DES ÄLTESTEN DER JUDEN stand auf den silbrigen Plaketten zu beiden Seiten des Fahrzeugs. Nicht, dass sich da jemand hätte irren können. Es gab nur einen einzigen derartigen Wagen im ganzen Getto.
    Der Präses ließ sich oft durchs Getto fahren. Da alles darin ihm gehörte, sah er sich schließlich veranlasst, die Dinge dann und wann in Augenschein zu nehmen, um sicherzugehen, dass alles seine Ordnung hatte. Dass
seine
Arbeiter am Fuß der hölzernen Brücken ordnungsgemäß anstanden, bevor sie diese von einem Teil des Gettos zum anderen überquerten; dass
seine
Fabriken allmorgendlich die Tore geöffnet hielten, damit der gewaltige Strom der Arbeiter hineingelangte; dass
seine
Ordnungskräfte an ihrem Platz waren, damit es zu keinem unnötigen Geplänkel kam, dass
seine
Arbeiter sich unverzüglich zu ihren Arbeitsgeräten begaben und dort abwarteten, bis
seine
Fabriksirenen ertönten, möglichst alle zugleich, im selben Augenblick.
    Das taten die Fabriksirenen auch an diesem Morgen. Es war ein vollkommen normaler klarer, wenn auch ein wenig kühler Tagesanbruch. Bald würde die Hitze die letzten Reste Feuchtigkeit aus der Luft brennen, |31| und es würde wieder warm werden, so wie es den
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