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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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taka schubrana
    Der wos hot a hant a schtarke
    Der wos hot ojf sich a marke
    Krigt fin schenstn in fin bestn
    Afile a postn ojch dem grestn
     
    [Getto, Getto, süßes, liebes
    Bist so klein und so korrupt
    Wer hier ist von starker Hand
    Und trägt ein Zeichen am Gewand
    Kriegt vom Besten und vom Schönsten
    Selbst ein Posten, gar den höchsten.]
     
    Jankiel Herszkowicz, »Geto, getunja«
    (komponiert und aufgeführt im Getto, etwa 1940)

    |40| © Staatsarchiv Łódź

 
    |43| Das Getto: platt wie ein Topfdeckel zwischen dem Aschewolkenblau des Himmels und dem Betongrau der Erde.
    Zieht man nur das Fehlen geographischer Hindernisse in Betracht, könnte es ins Unendliche so weitergehen: ein Gebäudegewirr im Begriff, sich aus den Ruinen zu erheben oder aufs Neue zusammenzustürzen. Das wahre Ausmaß des Gettos wird allerdings erst gänzlich sichtbar, wenn man sich
innerhalb
des derben Bretterzauns und der Stacheldrahthindernisse befindet, die von den deutschen Besatzern rundum errichtet wurden. Wäre es dennoch möglich, sich – beispielsweise aus der Luft – ein Bild vom Getto zu machen, könnte man deutlich erkennen, dass es aus zwei Hälften oder »Lappen« besteht.
    Der östliche Lappen ist der größte. Er erstreckt sich vom Bałucki Rynek und dem alten Kirchplatz mit der Marienkirche – deren hoher Doppelturm von überallher sichtbar ist – über die Reste dessen, was ehemals Łódźs »Altstadt« war, bis zur Gartenvorstadt Marysin.
    Vor dem Krieg war Marysin vornehmlich ein marodes Kleingartengebiet, voll von anscheinend willkürlich errichteten Werkstattbuden, Schweineställen und Schuppen. Nach der Absperrung des Gettos wurden die kleinen Parzellen und Gartenhäuschen von Marysin zu einem Gelände mit Sommerwohnungen und Erholungsheimen für speziell ausgewählte Mitglieder der herrschenden Getto-Elite.
    In Marysin befinden sich auch die große jüdische Begräbnisstätte und, jenseits der Umzäunung: der Güterbahnhof Radogoszcz, auf dem die schweren Materialtransporte eintreffen. Einheiten der Schutzpolizei, die auch das Getto rund um die Uhr bewacht, geleiten allmorgendlich Brigaden jüdischer Arbeiter aus dem Getto, die an der Rampe beim Be- und Entladen zupacken, und dieselbe Polizeikompanie achtet am Ende des Arbeitstages sorgfältig darauf, die Arbeiter wieder zurück ins Getto zu führen.
    |44| Der östliche Gettolappen schließt sämtliche Wohnviertel östlich und nördlich der großen Durchfahrtsstraße Zgierska ein. Aller Transitverkehr, auch der Straßenbahnbetrieb zwischen dem südlichen und nördlichen Łódź, führt durch diese Straße, die an nahezu jedem Häuserblock von deutschen Gendarmen bewacht wird. Die beiden meistgenutzten der insgesamt drei Gettobrücken schlagen ihren hölzernen Bogen über die Zgierska. Die erste der Brücken befindet sich am Altmarkt. Die zweite, von den Deutschen
Hohe Brücke
genannt, verläuft vom Steinfundament der Marienkirche hinüber zur Lutomierska auf der anderen Seite des Kirchplatzes. Der westliche Lappen umfasst die Wohnviertel um die alte jüdische Begräbnisstätte und den Bazarowa-Platz, auf dem seinerzeit die alte Synagoge lag (jetzt zum Pferdestall umfunktioniert). Die wenigen Mietshäuser, die im Getto über fließend Wasser verfügen, befinden sich in diesen Vierteln.
    Eine weitere größere Straße, die Limanowskiego, führt vom Westen ins Getto hinein und zerschneidet somit den westlichen Lappen in zwei kleinere Teile, einen nördlichen und einen südlichen. Auch zwischen diesen beiden Teilen befindet sich eine Holzbrücke, und zwar an der Masarska; allerdings wird sie nicht im gleichen Maße benutzt.
    In der Mitte des Gettos, genau dort, wo die beiden Hauptstraßen Zgierska und Limanowskiego aufeinanderstoßen, liegt der Bałucki Rynek. Der Markt ist gleichsam der Magen des Gettos. Alles Material, das in dem abgesperrten Gebiet benötigt wird, läuft hier hindurch, bevor es zu den
resorty
des Gettos gelangt. Und von hier aus wird auch der größte Teil der Waren ausgeführt, die die gettoeigenen Fabriken und Werkstätten produzieren. Der Bałucki Rynek ist die einzige neutrale Zone im Getto, in der Deutsche und Juden aufeinandertreffen; vollkommen abgeschnitten, umzäunt mit Stacheldraht, nur mit zwei ständig bewachten »Toren« versehen: eins an der Łagiewnicka und eins an der Zgierska, hinaus zum »arischen« Litzmannstadt.
    Auch die deutsche Gettoverwaltung verfügt über einen örtlichen Sitz am Bałucki Rynek, in einer Handvoll
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