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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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ganzen Sommer über gewesen war und es auch die restliche Zeit dieses grässlichen Septembers sein würde.
    Dass etwas nicht stimmte, merkte er erst, als Kuper von der Dworska in die Łagiewnicka einbog. Vor dem von Schupos bewachten Schlagbaum bei der Einfahrt zum Bałucki Rynek drängten sich Menschen, und keiner von ihnen war auf dem Weg zur Arbeit. Er sah, wie sich Köpfe in seine Richtung drehten und Hände nach dem Verdeck des Wagens ausstreckten. Einer oder mehrere Menschen schrien ihm etwas zu, die Gesichter seltsam vorgereckt. Dann kamen Rozenblats Männer angerannt, Ordnungskräfte umringten das Gefährt, und nachdem die deutschen Gendarmen den Schlagbaum geöffnet hatten, konnten sie in Ruhe auf den Platz fahren.
    Herr Abramowicz hielt bereits seinen Arm ausgestreckt, um ihn zu stützen, als er vom Wagen stieg. Fräulein Fuchs kam aus dem Barackengebäude gestürzt, und in ihrem Gefolge alle Bürokräfte, Telefonistinnen und Sekretärinnen. Er schaute von einem entsetzten Gesicht zum anderen und fragte:
Was starrt ihr?
Der junge Herr Abramowicz war der Erste, der sich ein Herz fasste, aus dem Pulk heraustrat und sich räusperte:
     
    Wissen Sie es nicht, Herr Präses? Der Befehl kam heute Nacht. Sie räumen die Spitäler, nehmen alle Kranken und Alten mit!
     
    Es gibt mehrere Zeugnisse darüber, wie der Älteste reagierte, als ihn der Bescheid erst auf diese Weise erreichte. Manche sagten, er habe keine Sekunde gezögert. Gleich darauf hätten sie ihn »wie einen Wirbelwind« zur Wesoła fegen sehen, um seinen nächsten Angehörigen möglichst schnell zu Hilfe zu eilen. Andere meinten, er habe die Neuigkeit mit fast so etwas wie Heiterkeit aufgenommen. Bis zuletzt habe er abgestritten, dass eine Deportation stattgefunden hatte. Wie sollte hier im Getto etwas ohne sein Wissen geschehen?
    Doch es gab auch jene, die plötzlich Unsicherheit und Angst hinter der autoritären Maske des Ältesten zu erkennen glaubten. Denn war nicht er es gewesen, der in einer seiner Reden geäußert hatte:
Es ist meine
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Devise, jeder deutschen Anordnung mindestens zehn Minuten voraus zu sein.
Irgendwann im Laufe der Nacht war ein Befehl ergangen, Kommandant Rozenblat musste informiert worden sein, da die Gettopolizei bis zum letzten Mann zur Stelle war. Alle, die es unmittelbar anging, schien man benachrichtigt zu haben, mit Ausnahme des Ältesten, der im Kabarett weilte!
     
    Als der Älteste am Dienstag kurz vor acht beim Krankenhaus ankam, war die gesamte Gegend um die Wesoła abgesperrt. Jüdische Polizisten hatten am Eingang eine Kette gebildet, unmöglich zu überwinden. Jenseits dieser Mauer aus jüdischen
polizajten
hatte die Gestapo breite Pritschenwagen mit je zwei oder drei Anhängern vorfahren lassen. Unter der Aufsicht deutscher Polizeikräfte waren Rozenblats Männer dabei, Kranke und Ältere aus dem Spitalgebäude zu schleppen. Einige der Insassen trugen noch immer ihre Patientenkleidung, andere kamen lediglich in Unterhosen oder splitternackt aus dem Haus, die ausgemergelten Arme über Brust und Rippen verschränkt. Einzelnen Patienten gelang es, den Kordon der Polizisten zu durchbrechen. Eine weißgekleidete Gestalt kam mit rasiertem Kopf auf die Absperrung zugestürzt, den blau-weiß gestreiften Gebetsschal wie eine Fahne hinter sich herziehend. Sofort hoben die Uniformierten ihre Gewehre. Der unbegreifliche Triumphschrei des Mannes wurde abrupt abgeschnitten, und in einem Regen aus Stofffetzen und Blut kippte er vornüber. Ein anderer der Flüchtenden versuchte sich auf den Rücksitz einer der beiden schwarzen Limousinen zu retten, die neben den Lastwagen und Anhängern vorgefahren waren, bei denen eine Handvoll deutscher SS-Offi ziere seit langem stand und die tumultartigen Szenen gleichgültig betrachtete. Der Flüchtende war gerade im Begriff, durch die Hintertür ins Auto zu kriechen, als der Chauffeur des Wagens SS-Hauptsturm führer Günther Fuchs auf den Eindringling aufmerksam machte. Mit behandschuhter Hand zerrte Fuchs den wild um sich schlagenden Mann aus dem Auto, schoss ihm dann zuerst durch die Brust und danach ein weiteres Mal – als der Mann längst am Boden lag – durch Kopf und Hals. Unverzüglich stürzten zwei Ordnungskräfte herbei, packten die Arme des Mannes und schleuderten die noch immer aus dem Kopf |33| blutende Leiche auf den Anhänger, auf dem sich gut hundert bereits eingefangene Patienten drängten.
    Während all dies geschah, war der Älteste ruhig und beherrscht auf den
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