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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Chef des Einsatzkommandos, einen gewissen SS-Hauptscharführer Konrad Mühlhaus, zugegangen und hatte verlangt, in die Räumlichkeiten des Krankenhauses eingelassen zu werden. Mühlhaus hatte das Ansinnen mit dem Hinweis abgelehnt, hier gehe es um eine
Sonderaktion
unter der Leitung der Gestapo, und Juden dürften die Absperrlinie nicht übertreten. Der Älteste hatte daraufhin gebeten, das Büro aufsuchen zu dürfen, um von dort ein dringendes Telefonat zu führen. Als auch dieses Begehren abgeschlagen wurde, soll der Älteste gesagt haben:
     
    Sie können mich erschießen oder deportieren lassen. Aber als Judenältester habe ich dennoch einen gewissen Einfluss auf die Juden des Gettos. Wenn Sie wollen, dass diese Aktion ruhig und würdig vonstatten geht, tun Sie klug daran, meinem Begehren nachzukommen.
     
    Der Älteste war knapp dreißig Minuten fort. In dieser Zeit ließ die Gestapo noch mehr Anhänger vorfahren, und ein weiteres Grüppchen von Rozenblats Ordnungskräften erhielt den Befehl, im Krankenhausgarten nach Patienten zu suchen, die versucht hatten, durch den Hintereingang der Klinik zu fliehen. Wer sich im Park versteckt hatte, wurde mit Schlagstöcken und Gewehrkolben zu Boden geprügelt; wer sich auf die Straße verirrt hatte, wurde von deutschen Posten kaltblütig erschossen. In regelmäßigen Abständen waren Rufe und erstickte Schreie aus der vor dem Park versammelten Schar Angehöriger zu vernehmen, die nichts tun konnten, um den kraftlosen Patienten zu helfen, die man jetzt einen nach dem anderen aus dem Gebäude brachte. Zugleich richteten sich immer mehr Blicke auf die Fenster im Obergeschoss, an denen die Leute erwarteten, den weißhaarigen Kopf des Präses auftauchen zu sehen, der bekanntgeben würde, dass die Aktion beendet sei, das Ganze nur auf einem Missverständnis beruhe, er inzwischen mit den Behörden gesprochen habe und alle Kranken und Alten nunmehr ungehindert nach Hause gehen könnten.
    |34| Doch als der Älteste nach dreißig Minuten am Eingang erschien, warf er nicht einmal einen Blick auf die vollbeladene Anhängerkolonne. Er begab sich raschen Schritts zu seinem Wagen und nahm darin Platz, worauf das Gespann wendete und zum Bałucki Rynek zurückfuhr.
    An diesem Tag – dem ersten der Septemberaktion – wurden insgesamt 674 stationär aufgenommene Patienten aus den sechs Gettokrankenhäusern in die überall in den Vierteln verteilten Auffanglager verbracht, von wo aus sie mit dem Zug weitertransportiert wurden. Unter den Ausgesiedelten befanden sich Regina Rumkowskas beide Tanten, Lovisa und Bettina, und möglicherweise auch Reginas geliebter Bruder, Herr Benjamin Wajnberger.
    Im Nachhinein zeigten sich viele erstaunt, dass der Älteste nichts unternommen hatte, um wenigstens seinen engsten Angehörigen zu helfen, obgleich man ihn doch vor dem Spital zunächst mit SS-Haupt scharführer Mühlhaus und anschließend mit Kommissar Fuchs hatte sprechen sehen.
    Etliche meinten zu wissen, was der Grund für diese Gefügigkeit war. Bei dem kurzen Telefonat, das Rumkowski aus dem Krankenhaus mit dem Leiter der Gettoverwaltung Hans Biebow geführt hatte, soll er ein Versprechen erhalten haben. Als Ausgleich dafür, dass er zustimmte, alle Alten und Kranken des Gettos ziehen zu lassen, soll dem Präses erlaubt worden sein, unter den für die Aussiedlung Vorgesehenen eine persönliche Liste von
zweihundert vollwertigen gesunden Männern
zusammenzustellen, Männer, die für den weiteren Betrieb und die Verwaltung des Gettos von unersetzlicher Bedeutung waren und die also im Getto verbleiben durften, obgleich sie die Altersgrenze offiziell bereits überschritten hatten. Der Älteste soll sich auf diesen Teufelspakt eingelassen haben, weil er darin die einzige Möglichkeit sah, das Überleben des Gettos auf Dauer zu sichern.
    Wieder andere sagten, Rumkowski habe begriffen, dass die Zeit der Versprechungen, was ihn anging, vorbei war, und zwar bereits in dem Augenblick, als man die Deportationen einleitete, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzen. Dass alles, was die Behörden bislang versprochen hatten, nur Lügen und leere Worte waren. Was bedeutete dann schon das Leben eines einzelnen Angehörigen, wenn ihm nichts |35| weiter übrigblieb, als verwirrt und machtlos mit anzusehen, wie das gesamte mächtige, von ihm erbaute Imperium langsam in sich zusammenfiel?

|37| I
Innerhalb der Mauern
    (April 1940 – September 1942)

 
    |39|
Geto, getunja, getochna, kochana,
    Tisch taka malutka e
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