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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Baracken, die Wand an Wand mit Rumkowskis Sekretariat liegen: dem Hauptquartier, wie es der Volksmund nennt. Hier befindet sich auch das Zentrale Arbeitsamt
(Centralne Biuro Resortów Pracy)
, unter Leitung von Aron Jakubowicz, das |45| die Arbeiten in den
resorty
des Gettos koordiniert und letztlich die Verantwortung für die gesamte Produktion und den Handel mit den deutschen Behörden trägt.
    Eine Übergangszone.
    Ein Niemands- oder vielleicht sollte man besser sagen ein
Jedermannsland
– mitten in dem strikt bewachten
Judenland
–, zu dem sowohl Deutsche als auch Juden Zutritt haben, Letztgenannte jedoch allein unter der Voraussetzung, dass sie einen gültigen Passierschein vorweisen.
    Man könnte es auch den besonderen
Schmerzpunkt
des Gettos nennen, der erklärt, weshalb es das Getto überhaupt gibt. Diese gigantische Ansammlung verfallener, unhygienischer Gebäude um einen Platz, der im Grunde nur ein einziger gigantischer Ausfuhrbahnhof ist.

 
    |46| Schon frühzeitig hatte er bemerkt, dass ihn so etwas wie Stummheit umgab. Er redete und redete, doch keiner hörte, was er sagte, oder die Worte drangen nicht hindurch. Es war, als säße er unter einer Glocke aus durchsichtigem Glas.
    Die Tage, als seine erste Frau Ida im Sterben lag:
    Es war im Februar 1937, zweieinhalb Jahre vor Kriegsausbruch und nach einer langen Ehe, die zu seiner großen Betrübnis keine Frucht getragen hatte. Die Krankheit, die vielleicht erklärte, warum Ida kinderlos blieb, ließ ihren Körper und ihre Seele langsam verdorren. Wenn er gegen Ende das Tablett zu dem Zimmer hinaufbrachte, in dem sie von zwei jungen Dienstmädchen gepflegt wurde, erkannte sie ihn nicht einmal mehr wieder. Zuweilen war sie höflich und korrekt wie zu einem Fremden, dann wieder schroff und abweisend. Einmal schlug sie ihm das Tablett aus der Hand und schrie, er sei ein
dibek
, er müsse vertrieben werden.
    Er wachte bei ihr, wenn sie schlief; nur so konnte er gewiss sein, dass sie ihm noch immer ganz gehörte. Sie lag in ihren schweißgetränkten Laken verfangen und schlug wild um sich.
Fass mich nicht an
, schrie sie,
halt deine schmutzigen Hände von mir weg
. Er ging auf den Treppenabsatz hinaus und rief den Dienstmädchen zu, sie sollten nach einem Arzt laufen. Doch blieben sie nur unten stehen und starrten zu ihm hinauf, als begriffen sie nicht, wer er war oder was er sagte. Es endete damit, dass er selbst gehen musste. Wie ein Betrunkener wankte er von Haus zu Haus. Am Ende fand er einen Arzt, der zwanzig Złoty nahm, allein um sich den Mantel anzuziehen.
    Doch da war es bereits zu spät. Er beugte sich hinunter und flüsterte ihren Namen, aber sie hörte nicht. Zwei Tage später war sie tot.
     
    |47| Einstmals hatte er versucht, sein Glück als Plüschfabrikant in Russland zu machen, doch die Revolution der Bolschewiken war dazwischengekommen. Sein Hass auf alle Arten Sozialisten und Bundisten rührte aus dieser Zeit. Ich weiß so manches über Kommunisten, das sich für gebildete Salons nicht eignet, sagte er zuweilen.
    Er hielt sich für einen einfachen, praktischen Menschen, ohne alle feinen
Allüren
. Wenn er sprach, redete er Klartext, laut und kräftig, mit dringlicher, ein wenig schriller Stimme, die so manchen voller Unbehagen den Blick abwenden ließ.
    Er war langjähriges Mitglied der Allgemeinen Zionisten, der Partei Theodor Herzls, doch mehr aus praktischen Gründen als aus festem Glauben an die Sache des Zionismus. Als die polnische Regierung 1936 die Wahlen für die örtlichen jüdischen Gemeinderäte aufschob, aus Angst, die Sozialisten könnten auch dort den Ton angeben, traten alle Zionisten aus der Łódźer
kehilla
aus und ließen Agudat Israel die Leitung der Gemeinde allein weiterführen. Alle, außer Mordechai Chaim Rumkowski, der sich weigerte, seinen Platz im Gemeinderat zur Verfügung zu stellen. Seine Kritiker, die mit seinem Ausschluss aus der Partei reagierten, sagten, er würde, wenn es dazu käme, selbst mit dem Teufel zusammenarbeiten. Sie wussten nicht, wie recht sie hatten.
     
    Früher einmal hatte auch er davon geträumt, ein reicher, erfolgreicher Textilunternehmer zu werden wie all die anderen legendären Persönlichkeiten in Łódź: Kohn, Rozenblat oder der unvergleichliche Izrael Posnánski. Eine Zeitlang hatte er zusammen mit einem Kompagnon eine Weberei betrieben. Doch ihm fehlte die notwendige Geduld für Geschäfte. Bei jeder verspäteten Lieferung brauste er voller Zorn auf, vermutete Betrug und
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