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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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sich dareinfinden mussten, zu Füßen dieses gewaltigen Amalek zu leben. Und der Älteste bekannte, dass er einen Traum hatte. Oder richtiger gesagt: Er hatte zwei Träume. Über den ersten sprach er mit vielen, es war der Traum vom Protektorat. Den anderen offenbarte er nur einigen wenigen.
    Er träume davon, so sagte er, den Behörden zu zeigen, was für tüchtige Arbeiter die Juden seien, damit sie sich ein für alle Mal überreden ließen, das Getto zu erweitern. Dann würden auch andere Teile von Łódź ins Getto eingemeindet, und wenn der Krieg schließlich vorbei wäre, müssten die Behörden anerkennen, dass das Getto ein
ganz besonderer
Ort sei. Hier werde das Licht des Fleißes hochgehalten, hier werde produziert wie nie zuvor. Und für alle sei es von Vorteil, dass die eingesperrte Bevölkerung Litzmannstadts arbeite. Wenn die Deutschen das erst eingesehen hätten, würden sie das Getto zu einem Protektorat im Rahmen jener Teile Polens erklären, die dem deutschen Reich einverleibt waren: ein jüdischer Freistaat unter deutscher Oberhoheit, in dem man die Freiheit zum Preis harter Arbeit ehrlich erworben hatte.
    Das war der Traum vom Protektorat.
    |22| In dem anderen, dem geheimen Traum stand er am Bug eines großen Passagierdampfers unterwegs nach Palästina. Das Schiff hatte nach dem von ihm persönlich geleiteten Auszug aus dem Getto den Hamburger Hafen verlassen. Wer genau außer ihm zu der Elite gehörte, der die Auswanderung gestattet worden war, machte der Traum nicht deutlich. Feldman verstand die Sache so, dass die meisten Kinder waren. Kinder aus den Berufsschulen und den Waisenhäusern des Gettos, Kinder, denen der Herr Präses selbst das Leben gerettet hatte. Im Hintergrund, auf der anderen Seite des Meeres, lag eine Küste: fahl in der Sonnenhitze, mit einem Saum weißer Gebäude nahe am Wasser und auf weichen Hügeln, die unmerklich in den weißen Himmel übergingen. Er wusste, es war Erez Israel, was er da sah, genauer gesagt Haifa, es ließ sich nur nicht klarer erkennen, weil alles miteinander verschmolz: das weiße Schiffsdeck, der weiße Himmel, die weißen, sich brechenden Wellen.
    Feldman gestand, dass es ihm schwerfiel, diese beiden Träume in Einklang zu bringen. Ging es um den Traum vom Getto als erweitertes Protektorat oder den Traum vom Auszug nach Palästina? Der Älteste erwiderte, was er stets zur Antwort gab, dass die Ziele von den Mitteln abhingen, dass man Realist sein müsse, sehen müsse, welche Möglichkeiten sich boten. Nach all den Jahren sei er vertraut damit, wie die Deutschen sind und denken. Obendrein habe auch er viele Vertraute in ihren Reihen gewonnen. Eins wisse er indes mit Sicherheit. Jedes Mal, wenn er aufwache und ihm klar werde, dass er diesen Traum erneut geträumt habe, fülle sich seine Brust mit Stolz. Was auch immer geschehe, mit ihm und mit dem Getto: Sein Volk würde er nie im Stich lassen.
    Dennoch war es genau das, was er tun würde.

 
    |23| Von sich selbst oder davon, woher er kam, sprach der Älteste selten. Das ist ein abgeschlossenes Kapitel, pflegte er zu sagen, wenn bestimmte Ereignisse aus seiner Vergangenheit zur Sprache kamen. Dennoch griff er zuweilen, wenn er die Kinder um sich scharte, bestimmte Vorkommnisse auf, die sich dem Vernehmen nach in seiner Jugend ereignet hatten und an die er offenbar noch immer denken musste. Eine dieser Geschichten handelte von dem einäugigen Stromka, der bei ihm daheim in Iliono Lehrer an der Talmudschule war. Wie der blinde Doktor Miller hatte auch Stromka einen Stock besessen, und dieser Stock war derart lang, dass er in dem engen Klassenzimmer jeden beliebigen Schüler wann auch immer erreichen konnte. Der Älteste zeigte den Kindern, wie Stromka mit dem Stock verfuhr, watschelte, genau wie Stromka es getan hatte, mit seinem schweren Körper zwischen den Schulbänken auf und ab, in denen die Schüler über ihren Büchern hockten, und dann und wann fuhr der Stock wütend aus und klatschte einem unaufmerksamen Kind auf Hände oder Nacken.
Genau so!
, sagte der Älteste. Den Stock hatten die Kinder das »verlängerte Auge« getauft. Es war, als könnte Stromka mit der Stockspitze
sehen
. Mit seinem blinden, echten Auge blickte er in eine andere Welt, eine Welt jenseits unserer eigenen, in der alles vollkommen war, ohne jeden Fehler und Makel, eine Welt, in der die Schüler die hebräischen Schriftzeichen mit äußerster Perfektion niederschrieben und ihre Talmudverse herunterratterten, ohne ins Stocken
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