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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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tiefgläubigen orthodoxen Juden, die sich, solange es erlaubt war, zu dem großen, an der Bracka gelegenen Begräbnisplatz begaben. Dort hockten sie stundenlang zwischen den Gräbern, den Gebetsschal über dem Kopf und die abgegriffenen Gebetbücher vor dem Gesicht. Alle hatten, wie er selbst, etwas verloren – eine Ehefrau, ein Kind, einen reichen wohlhabenden Verwandten, der sie nun im Alter hätte mit Essen und Obdach versorgen können. Es war dasselbe ewige
schokeln
, dasselbe Wehklagen wie zu allen Zeiten:
     
    Warum wurde das Geschenk des Lebens Jenem gegeben,
    der bitter geplagt;
    Jenem, der den Tod erwartet, ohne dass der Tod auch naht;
    Jenem, dem allein es brächte Freude, fände er sein Grab;
    Jenem, dessen Weg gehüllt ist in Finsternis:
    bedrängt, umstellt von Gott?
     
    Von den Jüngeren waren weniger erhabene Töne zu hören:
     
    – Hätte uns Mojsche nicht aus Mizrajim fortgeführt, könnten wir nun alle im Café in Kairo sitzen, statt hier eingesperrt zu sein.
    – Mojsche wusste, was er tat. Hätten wir Mizrajim nicht verlassen, wären wir nicht mit der Tora gesegnet worden.
    – Und was hat uns unsere Tora gebracht?
    |20|

Im ejn Torah, ejn kemach
, steht geschrieben; ohne Tora, kein Brot.
    – Ich bin vollkommen überzeugt, auch wenn wir die Tora hier gehabt hätten, hätten wir kein Brot.
    Der Älteste bezahlte Feldman, damit er ihm den Winter über die Sommerresidenz in der Karola Miarki instand hielt. Von den leitenden Mitgliedern des Ältestenrates verfügte beinahe jeder neben einer Stadtwohnung im Getto auch über einen »Sommersitz« in Marysin, und es hieß, manche würden sich nie von dort wegbegeben, wie die Schwägerin des Ältesten, Prinzessin Helena, von der man sagte, sie würde ihre Sommerresidenz lediglich verlassen, wenn im Kulturhaus ein Konzert gegeben wurde oder einer der reichen Unternehmer für die
schpizn
des Gettos ein Diner veranstaltete; bei diesen Gelegenheiten fand sie sich hingegen jedes Mal ein, auf dem Kopf einen ihrer zahlreichen eleganten Hüte mit ausladender, aufwärtsgebogener Krempe und ein Vogelbauer aus Hanfseil bei sich, in dem ein paar ihrer Lieblingsfinken zwitscherten. Prinzessin Helena sammelte Vögel. Im Garten vor ihrem Marysiner Haus hatte sie ihren persönlichen Sekretär, den in vielen Dingen bewanderten Herrn Tausendgeld, eine große Voliere errichten lassen, die nicht weniger als fünfhundert verschiedene Arten beherbergte, viele von ihnen so rar, dass sie in diesen Breiten nie zuvor gesichtet worden waren, und schon gar nicht im Getto, wo man selten andere Vögel als Krähen erblickte.
    Der Älteste selbst vermied alle Exzesse. Auch seine Feinde konnten bezeugen, dass sein Lebensstil maßvoll war. Zigaretten konsumierte er indes in großen Mengen, und wenn er spätabends bei der Arbeit in seinem Barackenbüro am Bałucki Rynek saß, kam es nicht selten vor, dass er sich mit einem oder ein paar Gläschen Wodka stärkte.
    Dann konnte es geschehen, auch mitten im Winter, dass Fräulein Dora Fuchs vom Sekretariat anrief und mitteilte, dass der Präses auf dem Weg war, und Feldman musste nach seinen Kohleneimern greifen und den ganzen Weg zur Karola Miarki hinaufmarschieren, um den Ofen anzuheizen, und wenn der Älteste dann eintraf, war er unsicher auf den Beinen und fluchte, weil es im Haus noch immer feuchtkalt war, und Feldman fiel es zu, den Alten zum Bett zu führen. Wie nur wenige |21| andere war Feldman vertraut mit den Stimmungsschwankungen des Ältesten, kannte die Ozeane von Hass und Missgunst, die unter seinem stummen Blick und seinem sarkastischen tabakbraunen Lächeln ruhten. Feldman kümmerte sich auch um die Wartung des Grünen Hauses an der Ecke Zagajnikowa, Okopowa. Das Grüne Haus war das kleinste und entferntest gelegene der insgesamt sechs Heime für elternlose Kinder, die der Älteste in Marysin hatte einrichten lassen, und es kam häufig vor, dass Feldman ihn hier fand, gegenüber der Einfriedung, die den Spielplatz auf dem Hof umgab, zusammengesunken in Kupers Wagen sitzend.
    Es war offenkundig, dass der Alte beim Anblick der spielenden Kinder Ruhe fand.
    Kinder und Tote
. Ihr Gesichtsfeld war begrenzt. Sie nahmen nur Stellung zu Dingen, die sie unmittelbar vor Augen hatten. Ließen sich nicht von all den Ränkespielen der Lebenden täuschen.
    Er und Feldman sprachen vom Krieg. Über das mächtige deutsche Heer, das seine Expansion an allen Fronten weiterzuführen schien, und über die verfolgten Juden Europas, die
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