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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten
Autoren: Lidewij van Wilgen
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    Vom Tal aus führt ein schmaler Weg den Berg hinauf. Unter den dunklen Eichen ist der Asphalt so schwarz, dass sich meine Augen unwillkürlich schließen, wenn plötzlich ein Streifen hellweißes Licht durch die Bäume fällt. Eine sanfte Biegung, eine Natursteinmauer, ich trete aus dem Schatten, die Aussicht weitet sich. Die grelle Sonne fällt auf das Felsplateau hinter den Weingärten und taucht es in ein helles Ockergelb. Dann geht der Asphalt in einen Sandweg über, und ich fahre durch eine Wolke aufstäubenden Sandes auf die hohen Zypressen in der Ferne zu. Ich stelle mein Auto ab und schlage die Tür zu – das Geräusch durchschneidet die Stille und lässt eine erschrockene Leere zurück.
    Das ist das Bild, das ich meinen Freunden und Bekannten immer und immer wieder gezeigt habe: ein langgestrecktes, sandfarbenes Haus mit hellblauen Fensterläden im Schatten einer großen, weit ausladenden Esche mitten in Frankreich. Alle konnten sich das Leben dort sofort vorstellen: den langen Tisch, den wir im Kies aufstellen würden, die vollen Gläser mit dem selbstgemachten Wein, spielende Kinder. Ein ewiger Sommer.
    Mit zwei schweren Einkaufstaschen in der Hand gehe ich vorsichtig das schmale Treppchen mit den glatten Steinen zum Haus hinunter. Ich stelle die Taschen auf die kleine Arbeitsplatte in der Herberge, sie ist der Teil des Hauses, den wir zu Anfang bewohnen werden. Eine Stunde noch, dann kann ich Fiene und Marijn aus dem Kindergarten und Laartje, das Baby, bei der Tagesmutter abholen. Ich stopfe einen Kopfsalat in das winzige Gemüsefach des Kühlschranks und verkeile ein Stück Käse auf einem Becher Crème fraîche. Hier wohnen wir also: ein langgezogener Raum von acht mal vier Metern mit einer kleinen Küche aus dem Baumarkt, weiß verputzten Wänden und einem Kamin aus hauchdünnem Kupferblech, über das schon bei der leisesten Berührung wollüstige Wellenbewegungen laufen. Madame Ros, die Vorbesitzerin, hatte uns diesen Raum, den sie als Ferienunterkunft vermietet und daher besser in Schuss gehalten hatte als den Rest des Hauses, als Höhepunkt ihrer Führung durchs Haus präsentiert. »Leicht zu vermieten, gute Einnahmequelle«, hatte sie gebrummelt. Eine unzufriedene Frau mit schwarzem, krausem Haar, die uns mit müder Routine durchs Haus geleitete – immer diese unbekümmerten, jungen Touristen, die ihr nur unnötig Arbeit machten. Dieser Widerwille spiegelte sich auch in ihrer Kleidung, einer schlabbrigen Leggins im ausgeblichenen Tigerprint, auf ihrem T-Shirt ein blaues Pferd vor einem verwaschenen Regenbogen.
    Ich stopfe die letzte Flasche Milch in den Kühlschrank, stelle die Einkaufstaschen in die Ecke und gehe nach draußen. Dort trete ich ein wenig zurück, um die sonnenbeschienene Fassade zu betrachten. Der Schatten der Blätter zeichnet ein Muster darauf, das wirkt wie ein feiner Häkelteppich – genau so müssen romantische Häuser in Frankreich aussehen. Dann betrete ich durch die hohen Stalltüren den rechteckigen Mittelteil des Hauses.
    Hier ist es dunkel, die hintere Wand hat keine Fenster, der Boden besteht aus gestampfter Erde und krümeligem Beton. Ich gehe die zwei Stufen in einen höher gelegenen Raum hinauf, der mit alten Terrakotta-Fliesen ausgelegt ist. Vor 300 Jahren war dies der Wohnraum, kaum zwölf Quadratmeter rund um einen großzügigen offenen Kamin aus weißem Stuck. Für die armen Bauern, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf dem Land arbeiteten, wird es gereicht haben, ein Platz, an dem sie sich kurz erholten, in der Wärme des Kamins und des Viehs im Raum nebenan – kurz etwas essen und dann nur noch schnell ins Bett. In der Ecke führt eine steile, irrwitzig schmale Treppe, die schon lange nicht mehr benutzt wird, nach oben in eines der Schlafzimmer. Madame Ros ging durch den Anbau aus dem 19. Jahrhundert nach oben, durch eine niedrige Öffnung in der dicken Steinmauer – ich muss mich bücken, um hindurchzukommen. Auf Madame Ros’ Spuren gehe ich in die Schlafzimmer auf der oberen Etage, wo die Möbel Schatten auf der Wand hinterlassen haben. Ich stelle mir Madame Ros vor, wie sie barfuß auf dem verschlissenen Teppich im hinteren Schlafzimmer steht, schlecht gelaunt wie immer. Dort stand auch der Wäscheschrank, in dem sie ihre hautfarbenen Strumpfhosen aufbewahrte, dort das Bett, auffallend klein für zwei
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