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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Aussagen von Zeugen, die Rumkowski überlebt haben – und trotz allem sind dies recht viele –, stellen ihn als einen gewissenlosen Karrieristen und Kollaborateur dar, der zu so ziemlich allem bereit war, um die Beschlüsse der nationalsozialistischen Machthaber in die Tat umzusetzen. Und doch gab es offensichtlich einen Punkt, an dem sich selbst Mordechai Chaim Rumkowski gezwungen sah, seinen Blick abzuwenden und »nein« zu sagen. Genau um diesen Punkt geht es in dem Roman. Was musste geschehen, damit selbst der starke Mann des Gettos den Gehorsam verweigerte? Und aus welchem Grund tat er es? Welchen Preis musste er für diese – wie sich Gertler paradoxerweise auch noch in seinen Zeugenaussagen ausdrückt –
verantwortungslose
Willfährigkeit bezahlen?
     
    In groben Zügen, und mit einigen Ergänzungen, folgt der Verlauf des Romans den Ereignissen im Getto, wie sie in der Gettochronik beschrieben sind.
    Die Gettochronik ist ein mehr als 3000 Seiten umfassendes Dokument, |643| das von weniger als einer Handvoll im Gettoarchiv Beschäftigter verfasst wurde. Das Archiv wiederum war der von Rumkowski im Frühjahr 1940 gegründeten Statistischen Abteilung unterstellt, die später auch das Meldeamt des Gettos umfasste und somit genaue Einwohnerregister führte. Mit den Jahren vergrößerten sich diese Abteilungen, so dass sie im Frühjahr 1944 schließlich insgesamt
44 Personen beschäftigten: 1 Direktor, 23 Sekretäre und Büroangestellte, 12 Zeichner und Grafiker, 4 Fotografen und 4 sonstige Arbeitskräfte
, wie es in einem Bericht heißt, den die Chronik zeitgleich wiedergibt.
    Die Statistische Abteilung hatte bereits von Beginn an mehrere klar definierte Aufgaben:
    Teil ihrer Tätigkeit waren
tägliche Mitteilungen an die staatliche Kriminalpolizei und andere betroffene Instanzen innerhalb der Gettoverwaltung über den Gesundheitszustand der Bewohner (inklusive Geburten und Todesfälle) sowie eine ausführliche demographische Erfassung des Zustandes der Beschäftigten, Berichte über die Produktion in den Fabriken und Werkstätten sowie über eventuelle Forderungen von Seiten des Judenältesten.
Zudem sollten sie
für andere Interessengruppen Zusammenfassungen dieser Art statistischen Materials erstellen, graphische Darstellungen statistischer Daten und Fotomontagen zu pädagogischen oder propagandistischen Zwecken erarbeiten und ebenso […] Bildmaterial für die Archivierung und sonstige praktische Verwendung sammeln und veröffentlichen.
Abgesehen von diesen speziellen Aufgaben hatte sie auch noch einen allgemeineren Auftrag, der darin bestand,
[…] insgeheim
– genauso steht es geschrieben –
Material zu sammeln für eine künftige Darstellung (= Geschichte) des Gettos und selbsttätig Aufzeichnungen zu diesem Zweck vorzunehmen.
    Die Chronik ist also von Anfang an, von der ersten, am 12. Januar 1941 erfolgten Aufzeichnung, bis zur letzten, die einen Monat vor der Auflösung des Gettos niedergeschrieben wurde, in erster Linie als Zeugnis für
künftige
Leser gedacht.
    Für den heutigen Leser ist das vielleicht nicht sofort ersichtlich. Bis zum September 1941 gleicht die Chronik, die zu diesem Zeitpunkt noch auf Polnisch verfasst wurde, weniger einem kollektiven Tagebuch, als einer Art Formular, in dem gewisse regelmäßige Ereignisse fortlaufend |644| festgehalten wurden. In dieser Hinsicht erinnert die Chronik in vielem an das
pinkas
oder Gemeindebuch, so wie es in jüdischen Gemeinden Polens und allgemein in Osteuropa seit Generationen geführt wurde. Die Chronik enthält beispielsweise Rubriken mit dem aktuellen Wetter, mit der Anzahl von Geburten und Todesfällen; hier findet man Auszüge aus Polizeiberichten, Angaben über bereits erfolgte oder bevorstehende Nahrungs- und Heizmateriallieferungen; Notizen über Veränderungen der Arbeitszeiten, über die Arbeitsbedingungen in den Fabriken des Gettos und anderes mehr. Zudem wurden in der Chronik die meisten Verlautbarungen von Rumkowskis Sekretariat oder der deutschen Gettoverwaltung festgehalten, ebenso (in stenographischer Form) beinahe alle Reden des Judenältesten.
    Das Dokumentieren der Reden war nicht zuletzt von großem Gewicht. Auf diese Weise konnte Rumkowski sich mittels der Chronik persönlich daran beteiligen, wie die Geschichte über sein Regime im Getto geschrieben wurde.
    Allmählich macht sich jedoch eine Veränderung in Form und Inhalt der Chronik bemerkbar. Am deutlichsten wird dies ab Herbst 1941, als einige der neuangekommenen
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