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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit
Autoren: Jodi Picoult
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zunehmend schwer, amisch zu denken. Erst Katies Prozeß, in dem ausgerechnet er als Experte für amisches Leben aufgetreten war, hatte ihm bewußt gemacht, daß es seine amische Seite nach wie vor gab. Er lebte zwar in einer anderen Welt, aber er betrachtete sie noch immer mit den Augen von jemandem, der ganz anders aufgewachsen war; er beurteilte sie nach Wertmaßstäben, die ihm schon als kleines Kind in Fleisch und Blut übergegangen waren.
    Und eine der ersten Wahrheiten, die man als Amischer lernte, war die, daß Taten mehr zählten als Worte.
    In der Welt der Englischen schickte man einander Beileidsbriefe und E-Mails und Grußkarten. In der Welt der Amischen zeigte man sein Mitgefühl mit einem persönlichen Besuch, Liebe war ein zufriedener Blick, den man einander über den Abendbrottisch hinweg zuwarf, Hilfe wurde in praktischer Form geleistet. Die ganze Zeit über hatte Jacob auf eine Entschuldigung von seinem Vater gewartet, obwohl so etwas gar nicht zu dessen Verhaltensrepertoire gehörte.
    Leise öffnete er die schwere Stalltür und ging hinein. Staubkörnchen tanzten in der Luft, und der süße Duft nach Heu und Mais war so vertraut, daß Jacob für einen Moment die Augen schloß. Die Kühe drehten ihre schweren Köpfe in seine Richtung.
    Jacob war zur Melkzeit gekommen. Er ging die Stallgasse entlang. Levi schaufelte etwas lustlos Mist in eine Schubkarre. Samuel füllte das Futter aus dem Siloschacht ab. Elam und Aaron gingen zwischen den Tieren hindurch, kontrollierten die Pumpen und wischten der Kuh, die als nächstes an der Reihe war, das Euter ab.
    Elam sah ihn als erster. Der alte Mann richtete sich langsam auf, blickte Jacob an und lächelte schließlich. Jacob nickte, griff dann in den Eimer, den sein Großvater in der Hand hielt, und riß aus dem alten Telefonbuch ein Blatt heraus. Er nahm Elam die Sprühflasche aus der Hand, um ein Euter zu sterilisieren. Im selben Augenblick kam sein Vater um das breite Hinterteil der Kuh herum.
    Aaron fuhr zusammen. Er stand stocksteif da, und die kräftigen Muskeln seiner Unterarme zuckten. Samuel und Levi schauten schweigend zu; selbst die Kühe schienen gespannt abzuwarten, was passieren würde.
    Elam legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter. »Es iss nix« , sagte er.
    Ohne ein Wort bückte Jacob sich und arbeitete weiter. Seine Handflächen glitten über den weichen Bauch der Kuh. Gleich darauf spürte er seinen Vater direkt neben sich. Die Hände, die ihm alles beigebracht hatten, schoben seine sachte beiseite, so daß die Milchpumpe angebracht werden konnte.
    Jacob erhob sich, stand unmittelbar vor seinem Vater. Aaron wandte langsam den Kopf und deutete mit dem Kinn auf die nächste Kuh. »Was ist?« sagte er. »Ich warte.«
    George stieg die Verandastufen der Fishers hoch, unsicher, was ihn erwartete. Er hatte fast befürchtet, daß Menschen, die Gott so nahe waren, ihn vom Blitz erschlagen lassen könnten, sobald er aus dem Wagen stieg, aber bislang war alles gutgegangen. Er zog Jackett und Krawatte gerade und klopfte energisch an.
    Die Angeklagte kam an die Tür. Ihr freundliches Lächeln wurde schwächer, erstarb dann völlig. »Ja?«
    »Ich, äh, möchte zu Ellie.«
    Katie verschränkte die Arme. »Sie kann im Moment keinen Besuch empfangen.«
    Aus dem Hintergrund schrie eine Stimme: »Das stimmt nicht! Mir ist jeder recht. Wenn es der UPS-Mann ist, herein mit ihm!«
    George zog die Augenbrauen hoch, und Katie stieß die Fliegentür auf, um ihn hereinzulassen. Er folgte ihr durch ein Haus, das überraschende Ähnlichkeit mit seinem hatte. Im Wohnzimmer lag Ellie auf der Couch, eine Wolldecke über den Beinen.
    »Sieh an«, sagte er. »Im Schlafanzug sehen Sie ganz anders aus. Sanfter.«
    Ellie lachte. »Deshalb trage ich ihn vor Gericht auch nur selten. Sind Sie privat hier?«
    »Das nicht gerade.« George blickte Katie vielsagend an. Sie sah hinüber zu Ellie und verschwand dann. »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.«
    »Was für eine Überraschung«, sagte Ellie trocken. »Kriegen Sie es langsam mit der Angst zu tun, weil die Geschworenen nicht zum Ende kommen?«
    »Aber nein. Eigentlich dachte ich, daß Sie mittlerweile Panik kriegen, und ich habe gerade meine ritterlichen zehn Minuten.«
    »Sie sind ja ein richtiger Lancelot, Sir George. Also schön, lassen Sie hören.«
    »Sie bekennt sich schuldig«, sagte George. »Und wir sind mit vier bis sieben Jahren einverstanden.«
    »Kommt nicht in Frage.« Ellie war entrüstet, doch dann
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