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Die einsamen Toten

Titel: Die einsamen Toten
Autoren: S Booth
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auch völlig außer Puste.«
    Er erwartete, hinter sich jemanden nach Luft schnappen zu
hören. Aber wieder nichts – nur schwarze Nacht und ferne Geräusche aus dem Tal.
    »Nach dem Winter bin ich so was von untrainiert, dass ich dachte, ich bekomme gleich einen Herzanfall, als ich endlich oben war.«
    Neil hielt inne, aber wieder nichts.
    »Ich dachte, ich müsste hier oben sterben, und keiner würde es je erfahren. Wenn ich hier gestorben wäre und du nicht gekommen wärst, hätte mich tagelang niemand gefunden.«
    Neil schaute zu Gallows Moss hinüber. Ein schwacher Farbschein legte sich zaghaft auf die Wolken. Neil hob seine Stimme ein wenig, als hätte das erste Licht des Tages etwas enthüllt, mit dem er bisher nicht gerechnet hatte.
    »Alles in Ordnung?«, fragte er. »Brauchst du Hilfe?«
    Neil wartete, immer noch umgeben von Stille. Aber er schaute nicht länger Richtung Osten, sondern warf einen raschen Blick über die Schulter zurück nach Westen, weg vom aufkeimenden Licht, hinein in die Dunkelheit. Irgendetwas war anders. Der Wind fühlte sich nicht mehr erfrischend kühl an, sondern war kalt und jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Es waren keine sanften Finger mehr, die über sein Gesicht strichen, sondern scharfe Krallen, die seine Haut ritzten. Die Luft schmeckte nicht mehr nach Morgentau, sondern nach einer namenlosen Angst. Neil fragte sich, ob er je wieder den Gesang des ersten Vogels im Licht der aufgehenden Sonne hören würde. Nur die Dunkelheit hatte ihm ein Gefühl der Sicherheit gegeben. Und im nächsten Augenblick schon würde die Dämmerung den schwarzen Schleier lüften.
    »Ja, ich dachte wirklich, ich würde hier oben sterben«, wiederholte er.
    Der erste Schlag, der ihn traf, kam völlig unerwartet. Als würde die Welt auf ihn stürzen wie eine Tonne Geröll, das aus dem Luftschacht auf ihn niederprasselte. Oder wie ein Zug, der aus dem alten Eisenbahntunnel hervorgeschossen kam.

    Neil sackte zu Boden und verlor das Bewusstsein. Knochen splitterten, und mit einem dumpfen Krachen schlug er auf den Steinen auf. Seine Kopfhaut war aufgeplatzt, und der darunter liegende Knochen, der zertrümmert hervorragte, hatte die Membran eingerissen, die das Gehirn umhüllte. Innerhalb weniger Sekunden sickerte Neils Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit aus dem Riss auf die Steine, wo sich bereits das Blut aus seiner Kopfwunde ausbreitete. Das Blut hatte seine Haare getränkt und floss in kleinen Bächen über Gesicht und Hals, wo es ein sich verzweigendes Netz bildete wie die verschlungenen Kanäle, die das Torfmoor entwässerten, auf dem er lag. Aber auf seiner Haut fand das Blut keinen Halt, deshalb tropfte es weiter, bis es auf die Steine traf und in den Boden sickerte.
    An der Stelle, wo die Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit aus Neils Gehirn austrat, würde sich rasch eine Infektion ausbreiten. Aber das spielte keine Rolle mehr. Ein Teil seiner Gehirnmasse war von der Wucht des Schlages zerquetscht worden, und tief unter den verschlungenen Nervenbahnen und Ganglien bildete sich ein kleines Hämatom. Ein tödliches Hämatom.
    Doch Neil hätte ohne weiteres überleben können, wäre er sofort in die Notaufnahme eines Krankenhauses eingeliefert und behandelt worden. Er hätte überlebt, hätte ein Neurochirurg eine Computertomografie angeordnet, das Hämatom operativ entfernt, in einem zweiten Schritt die Membran genäht und die verbliebenen Knochenfragmente herausgeholt. Wäre er sofort operiert worden und hätte er Antibiotika gegen die Infektion bekommen, hätte Neil überleben können.
    Aber das Schicksal sah nicht vor, dass Neil Granger ein Krankenhaus erreichen oder einen Neurochirurgen zu Gesicht bekommen sollte. Während sein Leben im Torf versickerte, war nur ein Mensch bei ihm, und der wartete darauf, dass er starb. Niemand rief einen Krankenwagen. Neil würde sich nie mehr von der Bewusstlosigkeit erholen, die dem ersten Schlag auf
seinen Kopf folgte, oder aus dem Koma erwachen, das der zweite Schlag hervorrief. Er würde nie erfahren, was passierte, nachdem er allein gelassen wurde, und er würde sich nie ängstigen, was nach seinem Tod mit seinem Körper geschehen sollte.
    Nichts bewegte sich rund um den Luftschacht, außer dem dampfenden Atem, der aus seinem Mund aufstieg und ins Tal hinabgeweht wurde – und eine kleine Weile später die beiden schwarzen Vögel, die über Withens Moor kreisten.

3
    D etective Sergeant Diane Fry wusste alles über Angst. Manche Menschen wurden durch
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