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Die dunkle Seite

Die dunkle Seite

Titel: Die dunkle Seite
Autoren: Frank Schätzing
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denn ...
    Es sei denn, Lubold hatte ihn aufs Kreuz gelegt!
    In plötzlichem Schrecken schossen Marmanns Blicke zwischen der Treppe und dem Aufzug hin und her. Was war da oben los? Warum hatte der verfluchte Hurensohn aufgehört, mit ihm zu reden?
    »Lubold!« rief er.
    »Oh, Monsieur Mormon«, schnarrte es aus dem Telefon. »Pardon, mon ami. Ich hatte dich tatsächlich vergessen.«
    »Was soll das?« schrie Marmann. »Du hast versprochen, du schickst Nicole!«
    »Ich war geblendet von der Pracht meines unverhofften Reichtums«, sagte Lubold gutgelaunt. »Sehr beeindruckend. Du hast Wort gehalten, mein französischer Freund.«
    »Ja, habe ich!« Marmann fühlte, wie seine Angst in dunkelrote Wut umschlug. »Und jetzt will ich, daß du deines hältst. Ich habe ein Recht darauf, hörst du?«
    »Natürlich hast du das.«
    »Wo ist Nicole?«
    »Bei mir. Komm und hol sie.«
    Marmann verharrte. Mißtrauisch starrte er ins Zwielicht.
    »Warum schickst du sie nicht runter?«
    »Aber Andre Andrejewitsch!« höhnte Lubold. »Du kränkst mich.
    Ich habe dir versprochen, daß ich Nicole gehen lasse, also was regst du dich auf? Du hast deinen Teil der Abmachung gehalten, ich halte meinen. Nimm die Treppe. Es sind nur ein paar Stufen. Binde sie los und bring sie nach Hause. Komm schon, worauf wartest du? Nicole hat sich die Freiheit weiß Gott verdient. Nicht wahr, Schwesterchen?«
    »Andi«, flehte Nicoles Stimme in unbestimmter Nähe. Sie klang, als sitze sie am Grunde eines Trichters. »Ich will weg! Hol mich weg von ihm, bitte!«
    Marmann erstarrte. Dann klappte er das Handy zu, rannte zur Treppe und stürmte hinauf. Der Stahl schwang dunkel wie eine Glocke, sandte den Nachhall seiner Schritte nach oben. Marmann legte den Kopf in den Nacken. Die Treppe wurde in ungewisser Höhe von der Düsternis verschluckt, nur durchbrochen von Streifen schwacher Helligkeit, wo die Konstruktion die Stockwerke durchbrach. Er rannte weiter. Sein Kopf tauchte über einem betonierten Boden auf. Stockwerk eins. Eine Halle, riesig wie im Erdgeschoß.
    Stützpfeiler, Fenster zum Rhein, in der rückwärtigen Wand die Flü geltüren des Aufzugs.
    Sonst nichts.
    Niemand.
    Schwer atmend schaute er sich um und hastete weiter. Erneut schloß sich der Schacht. Wieder Beton um ihn herum. Das Rasterblech der Stufen gewährte einen Blick nach unten.
    Ein Abgrund!
    Im Dom, erinnerte er sich plötzlich, gab es eine ähnliche Treppe, wenn man die Spindel der Steinstufen verlassen hatte. Ein stählernes Konstrukt, das hin‐und‐herschwang, so daß er als Kind kaum fähig gewesen war, die Aussichtsplattform zu erreichen. Man konnte nicht herunterstürzen, aber man sah durch die Stufen den Steinboden tief unten. Es hatte nur dieses Anblicks bedurft, um ihm jeden Mut zu rauben.
    Wie unfaßbar weit lag das zurück. War das wirklich seine Kindheit gewesen?
    Seine Hand packte das Geländer, ließ los, griff ein Stück höher erneut zu, während seine Füße auf die Stufen hämmerten. Nicole würde ihn hören.
    Sie würde Mut fassen.
    Hoffnung.
    Geräusche. Dämmerlicht vor seinen Augen. Säulen, Fenster. Der zweite Stock.
    Fast wäre er weitergelaufen, so besessen von dem Gedanken, sie Lubold zu entreißen, daß seine Phantasie das zu erwartende Szenario maßlos hatte aufquellen lassen und er beinahe blind war für die Realität. In der Halle, ein genaues Abbild der unteren und der darunter, fiel Nicole erst gar nicht auf. Erst als Marmann genauer hinsah, bemerkte er zwischen zwei Stützpfeilern einen kleinen menschlichen Körper, der zu schweben schien. Einen Engel mit gestutzten Flügeln und auf dem Rücken zusammengebundenen Händen.
    Der Engel weinte.
    Sein Schluchzen verlor sich zwischen den Pfeilern, kleine Tupfer aus Schmerz und Verzweiflung in der düsteren Leere. Nichts und niemand war zu sehen außer dem scheinbar schwerelosen Körper.
    »Nicole!«
    Marmann sprang aus dem Gitterkäfig der Treppe und lief quer durch die Halle zu ihr. Im Näherkommen erkannte er, warum sie schwebte. Er blieb stehen und rang nach Luft. Der Decke entsprangen gewaltige Haken. Stahlketten wanden sich darin. Eine der Ketten war unter Nicoles Achseln hindurchgezogen, eine andere um ihre Knöchel gewickelt. Dann hatte Lubold sie hochgezogen, bis sie in gut zwei Metern Höhe waagerecht über dem Boden hing.
    Marmann ballte in ohnmächtiger Wut die Fäuste und ging weiter.
    Sie hob den Kopf, soweit es ihr möglich war, und wimmerte seinen Namen.
    »Ruhig, Nicole.« Er vermochte nur zu
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