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Die dunkle Seite

Die dunkle Seite

Titel: Die dunkle Seite
Autoren: Frank Schätzing
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flüstern, so sehr schnürte ihm seine Wut die Stimme ab. »Es ist vorbei. Wir werden nach Hause gehen.«
    Unter seinen Füßen knirschte etwas.
    Marmann blieb stehen und sah nach unten.
    Glasscherben.
    Ungläubig wanderte sein Blick über den Boden. Er sah nach rechts und links bis zu den Säulen und unter Nicole hindurch, und überall bot sich das gleiche Bild. Alles war übersät mit zerbrochenem Glas, als habe jemand systematisch eine Wagenladung Flaschen hier zerschlagen.
    Nicole hing über einem Scherbenfeld von einigen Metern Durchmesser. Um ins Zentrum zu gelangen, gab es nur den Weg hindurch, gleichgültig, von welcher Seite man sich näherte.
    Was für eine perfide, überflüssige Spielerei. Hatte Lubold vollends den Verstand verloren? Dann würde es halt knirschen. Er machte einen weiteren Schritt.

    »Hallo, Andi.«
    Marmann fuhr herum. Lubold war hinter einer Säule hervorgetreten. Unter dem linken Arm hielt er den Koffer, in der Rechten eine .22er Pistole.
    Marmann starrte ihn an.
    »Was soll das?« zischte er.
    Lubold hob erstaunt die Brauen.
    »Wovon sprichst du?«
    »Was soll dieser Scherbenhaufen? Du hast die Steine! Was willst du noch?«
    »Nichts.«
    »Du hast versprochen, daß ich Nicole holen kann.«
    »Du kannst sie ja holen«, sagte Lubold mit undefinierbarem Lä cheln. »Wenn du kannst.«
    Marmann schnaubte geringschätzig. Er drehte sich um und ging los.
    »Stop«, sagte Lubold.
    »Nein! Du hast versprochen ...«
    Ein Schuß peitschte durch die Halle. Vor Marmanns Füßen splitterte Glas. Er machte einen Satz zurück und sah Lubold mit aufgerissenen Augen an.
    »Was machst du denn?« schrie er. »Was willst du jetzt noch?«
    Lubold zuckte die Achseln.
    »Nicht viel. Ich will dir nur einen Eindruck davon geben, wie es war.«
    »Wie was war, Herrgott?«
    »Wie es so ganz alleine in der Wüste war.«
    Marmann schluckte schwer.
    »Das tut mir leid, verdammt.«
    »Ja«, nickte Lubold. »Mir auch.«
    »Ich habe dafür bezahlt. Also was willst du?«
    »Ich will, daß du Nicole holst.« Lubold machte eine Pause. »Zieh deine Schuhe aus und hol sie.«

    Marmann wollte etwas erwidern, aber es schnürte ihm die Kehle zu. Er wandte den Kopf und sah auf das Scherbenfeld. Bis zu Nicole waren es mehr als fünf Meter.
    »Das ... kannst du nicht wollen«, flüsterte er.
    »Nicht? Die gleichen Worte gingen mir damals auch durch den Kopf. Das könnt ihr nicht wollen. Wie soll ich dir meine Empfindungen beschreiben, nachdem ihr fort wart? Drei Kugeln im Körper. Hast du je Schmerzen gelitten, bis sie fast schon keine Rolle mehr spielen? Weil du sie keiner Empfindung von Schmerzlosigkeit mehr gegenüberstellen kannst, sondern alles, jede Faser deines Körpers, jeder deiner Gedanken, der Sand, der Himmel, die Luft, die bloße Tatsache deiner Existenz, Schmerz ist?«
    Marmann senkte den Blick. Er fühlte Lubolds Aufmerksamkeit wie Tonnen auf sich lasten.
    »Diese Erfahrung habe ich mit Üsker geteilt, und mit Solwegyn die Empfindung der Sonne, die dich verbrennt. Denn zu dem Feuer in deinen Eingeweiden kommt das Feuer auf deinem Körper. Es ist unglaublich, was die Sonne mit einem macht. Du glaubst, jeder Tropfen Feuchtigkeit wird aus deinen Poren gezogen und verdampft, so daß eine Mumie ein feuchter Schwamm ist gegen dich.
    Du hast kein Wasser mehr, nichts, also schwitzt du Blut, das du von deiner Haut blasen kannst, rotbraunes Pulver, und immer noch kennt die Hitze kein Erbarmen.«
    »Es tut mir leid«, wiederholte Marmann schwach.
    »Aber du schleppst dich vorwärts, und jeder deiner Schritte ist, als ob du in Glas trittst. Von innen, von oben und von unten frißt sich der Schmerz in dich hinein. Wenn du glaubst, du wirst keinen dieser Schritte mehr gehen können, kannst du immer noch einen gehen, aber er kommt dir vor wie eine komplett ausgestattete Hölle mit Teufeln drin und Höllenfeuer und allem Drum und Dran. Ein! – einziger! – Schritt! Verstehst du?«
    Marmann schüttelte den Kopf.
    »Du konntest das nicht überleben«, sagte er. »Warum hast du bloß überlebt?«
    »Warum? Die Iraker haben mich aufgegabelt. Ein desolater, heulender Haufen Flüchtiger, die meinten, mit einem Kriegsgefangenen hätten sie bessere Karten. Sie hatten alle schreckliche Angst vor den Alliierten und noch mehr vor ihrem hochgeschätzten Saddam. Ich war ihr jämmerlicher kleiner Trumpf. Iraker, stell dir das mal vor!
    Sie gaben mir Wasser zu trinken und schafften es, unbehelligt mit mir über die Grenze zu kommen. Ich wurde
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