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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse
Autoren: Armin Oehri
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sie das Haus mit den Klinkersteinen nicht aus den Augen ließen. Keiner
von ihnen sprach ein Wort und insgeheim wunderten sie sich über die abgeklärte Ruhe,
mit der sich Bissing in sein Schicksal fügte. Hinter ihrem Rücken floss träge die
Havel vorbei und allmählich ging die Sonne auf. Es war eine lange Nacht gewesen.
Als in der Beletage endlich der Schuss ertönte, machten sich die beiden Studenten
auf den Heimweg.

Dreißigstes Kapitel
     
    Julius Bentheim fühlte sich
derart müde und erschlagen, dass er nur noch danach trachtete, nach Hause zu gelangen,
zu Filine, und sich neben sie auf das Matratzenlager zu legen. Krosick hingegen
war aufgewühlt. Er plauderte und ließ die ganzen Geschehnisse der letzten drei Monate
Revue passieren. So hatte sich Julius endlich breitschlagen lassen, mit seinem Freund
das Frühstück einzunehmen.
    »Sind wir
eigentlich auf die gleiche Stufe gesunken wie unsere zwei Herren vom Feuerbach-Verein?
Ich meine, wir haben einen von ihnen in den Tod getrieben«, sinnierte der Tatortzeichner.
    Sie saßen
im Café Kranzler auf der sogenannten Rampe, einer Terrasse mit Blick auf den Kurfürstendamm.
Der Baupolizei war sie seit jeher ein Dorn im Auge, doch sie genoss den besonderen
Schutz des Königs. Es war das erste Caféhaus, dessen Betreiber auf die Idee gekommen
waren, Tische auf die Straße zu stellen, weshalb das Kranzler einen Anzugspunkt
für Jung und Alt bildete.
    Das mild-würzige
Aroma gemahlener Kaffeebohnen stieg den Studenten in die Nase und Krosick schüttelte
den Kopf.
    »Nein, Julius«,
erwiderte er, »wir sind unschuldig. Es lag in Bissings Ermessen, die Reaktion auf
unsere Offenbarung abzustimmen. Er hätte auch flüchten können. Irgendwohin ins Ausland.«
    »Als Ehrenmann?
Nie und nimmer. Wir haben ihm keine Wahl gelassen.«
    »Jemand,
der Leute umbringt, verdient unseren Respekt nicht mehr.«
    »Das stimmt
auch wieder.«
    »Bisweilen
kann man bürgerlichen Ungehorsam befürworten«, meinte Albrecht. »Als Kollektiv ist
es die Aufgabe des Menschen, sich um die Einhaltung von Regeln und Gesetzen zu bemühen.
Als Individuum sollten wir jedoch stets das Beste tun – auch wenn es außerhalb des
Gesetzes liegt. Dieser Fall ist eigentlich ein Meisterstück, findest du nicht auch?
Diese Intensität der Zielstrebigkeit, mit der die beiden Mörder zu Werke gegangen
sind, und diese Verachtung aller geläufigen Wertvorstellungen. Keine Habgier, keine
Lust, kein Mord aus Verlangen. Das ist schieres Verbrechen, eine Schändlichkeit
in Reinform. Mein lieber Junge! Und alles verdammt durchdacht.«
    Er führte
die Kaffeetasse an den Mund und nippte daran.
    »Zumindest
haben wir unseren ersten Mordfall gelöst«, sagte Julius schließlich voller Stolz.
Sie bestellten Kuchen und scherten sich nicht um die scheelen Blicke, die sie ob
ihrer noch immer schmutzigen Kleider auf sich zogen.
    Kurz vor
9 Uhr verabschiedeten sie sich voneinander und Bentheim nahm einen Kremserwagen,
einen offenen Pferdeomnibus. Zweimal musste er umsteigen, bis er die Marienburger
Straße erreichte. Müde kämpfte er sich Stockwerk um Stockwerk empor bis zur obersten
Etage. Erstaunt stellte er fest, dass die Tür zum gemeinsam genutzten Mansardenflur
offen stand.
    »Filine?«,
rief er, ohne eine Antwort zu erhalten.
    Er sah sich
um. Eine düstere Vorahnung erfasste ihn und kroch wie eine Spinne über seinen Rücken.
Die Tür zur Wohnung der alten Frau Lützow war zu, ebenso jene, die Lene Kulm und
Gregor Haldern gehört hatte. Das Fenster zum Lichtschacht stand leicht offen, im
leichten Luftzug bewegte sich der Rehfuß mit der Türglocke. Atemlos näherte sich
der Tatortzeichner seiner Mansarde und stieß die Tür auf, die nur angelehnt war.
Er vernahm Geräusche, Wortfetzen, Gespräche, und begriff sofort, dass Filine nicht
mehr im Zimmer war. Ein Kribbeln auf seiner Haut, ein Stechen in den Eingeweiden
zeugte von der Angst, die ihn zu übermannen drohte.
    Weder Spaten
noch sonst ein Werkzeug, das er als Waffe gebrauchen konnte, trug er bei sich. Alles
hatte Albrecht mitgenommen, und für ein paar endlose Sekunden stand Julius Bentheim
reglos im Flur. Dann stieß er mit dem Fuß an die Tür, sodass sie aufschwang und
den Blick auf drei Gestalten freigab, von denen zwei ihn forschend ansahen. Ein
bulliger Kerl mit blonden Haaren und ein gedrungen wirkender Rotschopf saßen an
seinem Tisch, ein paar Spielkarten in den Händen.
    Der Dritte
jedoch, der hagere 40-jährige Mann mit bleichem Gesicht, stand
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