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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse
Autoren: Armin Oehri
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unsichtbar machte – was würdest du tun?«
    Ein verstohlenes
Lächeln huschte über sein Gesicht. »Das willst du nicht wissen.«
    »Sprich
schon, du Schelm.«
    »Ich würde
in die Hasenheide hinausfahren, wo es mittlerweile auch schon Turnvereine der Damen
geben soll. Dort würde ich vorbeischauen und wie der alte Turnvater Jahn frisch,
fromm, fröhlich, frei durch die Umkleidekabine wandeln.«
    »Du bist
ein Ferkel, Julius, aber du hast meine Theorie bestätigt. Was wäre deine zweite
Tat als Unsichtbarer?«
    »Ein Besuch
bei einem Kredithaus. Ich würde mir die Taschen voller Geld stopfen und damit ungesehen
hinausspazieren.«
    »Siehst
du, es fällt dir lediglich etwas ein, womit du anderen Schaden zufügst. Denk mal
darüber nach. Noch jeder, dem ich diese Frage gestellt habe, hat ähnlich geantwortet
wie du. Das wirft ein schlechtes Bild auf die Menschheit, mein Schatz, aber so ist
nun mal das Leben.«
    Er umarmte
sie.
    Sie aßen
gemeinsam zu Abend und zogen sich danach aufs Bett zurück. Die Sonne ging jetzt
viel früher unter als noch vor wenigen Wochen, und als es in der Mansarde stockdunkel
geworden war, kleidete er sich wieder an, gab ihr einen Kuss und machte sich auf
den Weg.
     
    Albrecht Krosick erwartete ihn bereits,
als Julius mit einer Kutsche vorfuhr. Der Fotograf hielt beide Arme ausgebreitet.
Er hatte zwei lange Stiele umgriffen. Die Schaufelblätter waren in Lumpen eingewickelt.
An einem Henkel um seinen Unterarm schlingerte eine Blendlaterne. Bentheim öffnete
den Verschlag, nahm die Schaufeln entgegen und rutschte auf der Sitzbank beiseite.
Er beugte sich vor zum Sprechrohr und gab eine Stelle in der Nähe des Friedhofs
an, auf dem man Botho Goltz bestattet hatte: »Zum Halleschen Tor!«
    Die Pferde
zogen an und das Rattern der Räder hallte durch die Straße. Im Dunkel eines Hauseingangs
verborgen verfolgten zwei aufmerksame Augenpaare die Abfahrt der Kutsche, bis diese
um die nächste Biegung verschwunden war.
    Die Minuten
verstrichen. Schweigend saßen die zwei jungen Studenten in dem Gefährt, das ruckelnd
nach Süden fuhr. Bis zum Judenedikt von 1812 war das Hallesche Tor eine von lediglich
zwei Passiermöglichkeiten für Juden gewesen, welche die Stadt verlassen wollten.
Die Wächterhäuschen, bei denen man sich hatte registrieren lassen müssen, standen
noch zu beiden Seiten der Straße, doch waren sie längst verlassen und nur mehr Relikte
alter Zeit.
    Als die
Kutsche durch die Torstation fuhr, verließ sie das ursprüngliche Stadtgebiet. Arbeitersiedlungen
und windschiefe Hütten, von den Ärmsten der Armen bewohnt, reihten sich hier aneinander,
bis nur mehr Wälder vorherrschten, durchbrochen von ein paar brachliegenden Äckern.
    Bei einer
Fichtengruppe ließ Krosick anhalten. Im Hintergrund zog sich ein baufälliger Zaun
mit teils lose hängenden Latten übers Feld, welcher den Totenanger umfriedete. Aus
ehemals fünf kleinen Kirchhöfen war der Friedhof vor dem Halleschen Tor zusammengewachsen.
Hauptsächlich Leute aus armen Verhältnissen waren hier begraben – nach einer lieblos
gehaltenen Predigt verscharrt und vergessen. Aber auch Felix Mendelssohn-Bartholdy,
Chamisso und E. T. A. Hoffmann hatten hier ihre letzte Ruhestätte gefunden.
    »Nimm!«,
meinte Albrecht, als er seinem Freund eine Schaufel reichte.
    Er übergab
dem Kutscher ein ausreichend überzeugendes Entgelt, damit dieser auf sie wartete,
und schlug an Bentheims Seite den Weg zum Friedhof ein. Er bückte sich unter einer
Zaunlatte hindurch und entzündete die Laterne, um die Gräberreihen auszuleuchten.
    »Weißt du,
wo er begraben ist?«
    »Ungefähr.«
    »Warum liegt
er hier draußen?«, wollte Julius wissen.
    »Wer lässt
schon Geld für einen Mörder springen?«, erwiderte Albrecht. »Lebende Verwandte besaß
er keine und die Staatskasse bezahlt nicht jeden Luxus.«
    Sie machten
einen Bogen um eine von Efeu und Unkraut überwucherte Ansammlung von Gräbern und
hielten auf eine große Trauerweide zu, die das Zentrum jenes Gottesackers markierte,
der zur Jerusalems- und Neuen Kirchgemeinde gehörte. Albrecht erklärte, dass die
Armengräber am entgegengesetzten Ende lagen, abseits der Gräberfelder, die noch
Grabsteine besaßen. Weiter hinten konnte man nur mehr verrottende Holzkreuze erkennen,
die wie knorrige Leichenhände aus dem Boden ragten.
    »Ob er noch
lebt?«, meinte Julius beklommen.
    »Mir egal«,
erwiderte der Fotograf hartherzig. »Ich will nur Beweise finden.«
    Bentheim
sagte nichts mehr. Er
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