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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse
Autoren: Armin Oehri
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achtete auf den Lichtschein zu ihren Füßen, in dessen Kreis
die Schatten der Grabsteine und Kreuze einen wilden Tanz aufführten. Sie gingen
über ein leeres Wiesenstück, dessen ungerodete Grashalme ihnen um die Beine strichen.
Als sie das äußere Ende des Gevierts erreichten, leuchtete Krosick jedes noch intakte
Holzkreuz einzeln ab. Bentheim war weit davon entfernt, sich durch religiöse Skrupel
von seinem Tun ablenken zu lassen, und doch sträubten sich seine Nackenhaare. Es
war vielmehr eine weltliche Angst, die ihn für einen kurzen Moment innehalten ließ,
nämlich die Angst vor dem langen Arm der Justiz, der nach Grabschändern griff und
nach jenen, welche die Ruhe der Toten zu stören wagten.
    Bei einem
Grabhügel mit frisch aufgeworfener Erde blieb Krosick stehen.
    »Professor
Goltz«, las er auf einer Holzplakette und rammte grimmig das Schaufelblatt in den
Boden. Weiter hinten, bei einigen Trauerweiden, die tagsüber reichlich Schatten
spendeten, befanden sich die entlang einer Mauer angelegten Familiengräber. Auf
den Feldern dahinter blökten die Schafe.
    Verstohlen
sah sich Julius um, bevor er Albrecht zur Hand ging. Der flüchtige Laternenschimmer
beleuchtete den immer größer werdenden Erdhaufen. Ihre Schatten wiederholten unbarmherzig
ihre Bewegungen, wie um die Schwere der pietätlosen Totenschändung zu verdoppeln.
Nach wenigen Minuten standen sie hüfttief im Grab und Albrecht warf den Spaten beiseite,
um mit bloßen Händen Erde und Gesteinsbrocken heraufzuholen. Plötzlich stießen sie
auf Widerstand.
    »Der Sarg«,
murmelte Bentheim.
    »Hilf mir,
den Deckel zu heben.«
    Die Sargform
war konisch, also am Kopfende breiter als bei den Füßen. Behutsam wischten sie mit
den Fingern die letzten Erdkrumen weg und legten die Verschlussklappen frei. Noch
ehe der Deckel ganz gehoben war, drang ihnen der typische Geruch der Verwesung entgegen.
Albrecht leuchtete hinein, und obgleich ihnen vor Augen trat, was sie erwartet und
sich ausgemalt hatten, erschreckte sie der Anblick.
    Das Leichentuch
war nicht mehr an seinem Platz, sondern nach unten verrutscht. Die Sackleinwand,
mit der man den vermeintlichen Toten eingewickelt hatte, war durchbrochen und blutbesudelt.
Brombeerfarben nahmen sich die Flecken darauf aus. Die Arme des Professors waren
angewinkelt und vor der Brust verschränkt, die Handflächen präsentierten sich dem
Betrachter. Die Nägel waren eingerissen oder abgebrochen, an einigen Stellen war
das Fleisch an den starren Fingern bis zu den Knochen abgekratzt.
    »Mein Gott,
er hat tatsächlich noch gelebt.«
    Julius hob
die Laterne, um das Gesicht des Professors zu beleuchten. Eine zur Grimasse verzogene
Fratze lachte ihnen entgegen. Die Augen waren glasig und gebrochen, traten aber
wie bei einem angestrengt arbeitenden Menschen hervor. Die Stirn war in Falten gelegt,
der rote Bart zerzaust, der Mund geöffnet mit verschobener Kinnlade, sodass es aussah,
als hätte man dem Professor noch im Tod den Kiefer ausgerenkt.
    »Beweis
genug?«, meinte Bentheim und sah seinem Freund ins Gesicht.
    »Mehr als
genug.« Er nickte.
    »Dann schaufeln
wir ihn zu.«
    Krosick
hielt Bentheims Hand fest, ehe dieser wieder zum Spaten greifen konnte.
    »Nein, wir
gehen unverrichteter Dinge fort, damit morgen irgendjemand die Gendarmerie benachrichtigt.
Der arme Teufel, der das Grab so vorfindet, tut mir zwar jetzt schon leid, aber
es muss sein. Die Leute würden sonst nie etwas über Goltz’ Schicksal erfahren.«
    Sie kletterten
aus der ausgehobenen Grube und schüttelten sich die Erde von den Kleidern. Bentheim
langte nach dem Sargdeckel, der angelehnt an der Innenseite des Grabes stand, und
zog ihn hoch, damit er nicht zufällig umkippen konnte. Er legte ihn hinter dem Holzkreuz
ins Gras, packte seine Schaufel und tappte seinem Freund hinterher, der bereits
den Weg zur Kutsche eingeschlagen hatte.

Neunundzwanzigstes Kapitel
     
    Es wunderte Julius stets aufs
Neue, wie verschwiegen Berlins Kutscher sein konnten. Mehr als einmal war er in
den letzten Monaten auf die Dienste eines schweigsamen Helfers angewiesen gewesen
und ein jedes Mal konnte er sich dessen Diskretion gewiss sein. So auch diesmal.
Zweifellos war dem Mann auf dem Kutschbock ihr schmutziges Äußeres aufgefallen,
doch er verzog keine Miene, als die zwei düsteren Gesellen über den Gottesacker
getrottet kamen.
    »Die Rückfahrt
kostet zwei Scheine mehr«, brummte er lediglich und hielt die offene Hand hin.
    »Halsabschneider!«,
schimpfte
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