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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse
Autoren: Armin Oehri
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Erstes Kapitel
     
    Den Tag ihrer Ermordung begann Lene
Kulm auf gewohnte Art und Weise. An jenem 12. Juli des Jahres 1865 schlief sie bis
11 Uhr und machte sich dann auf den Weg zum Schlachthof, wo sie bis in den späten
Nachmittag hinein die wertlosen Knochen und Sehnen der abgestochenen Schweine und
Kühe einsammelte und in massiven Eisenkübeln entsorgte. Es war eine üble, schlecht
bezahlte Tätigkeit. Aber der Arbeitsplatz wurde ihr von niemandem streitig gemacht,
und das Geld brauchte sie für ihre Wohnungsmiete. Lene war jung, knapp über die
20 hinaus. Sie sah nicht so verlebt aus, wie es ihr Lebenswandel vermuten ließ,
und mit ihrem ovalen Gesicht und den dunkelgrünen Augen konnte man sie sogar als
hübsch bezeichnen.
    Mechanisch
sammelte sie die Reste auf, die von den Schlachtern übrig gelassen worden waren,
und bespritzte die Eisengitter am Boden mit frischem Wasser. Rötliche Seen bildeten
sich um die Abflussrohre. Einige ihrer Arbeitskollegen wechselten ein paar Worte
mit ihr, doch Lene nickte bloß geistesabwesend. Das in die Kanalisation rinnende
Tierblut erinnerte sie an die Wortgefechte der letzten beiden Nächte. Wie immer,
wenn sie ihre Regelblutung hatte, wurde sie von ihrem Freund beleidigt, verprügelt
und gedemütigt. Sie dachte wehmütig an den Abend, an die Zeit nach Sonnenuntergang,
wenn sie versuchen würde, ein paar Freier anzuwerben.
    Naturgemäß
war ihr zweites Einkommen während ihrer Menstruation geschmälert. Doch es fanden
sich immer wieder Kunden, die weniger wählerisch waren. An diesem Tag nahm sie ihr
Abendbrot in einer verrauchten Kaschemme ein. Als sie bezahlt hatte, suchte sie
den Abort auf, um sich frisch zu machen. Der Vorraum war eng und besaß nicht einmal
einen Spiegel über dem Waschbecken. Lene griff in ihre linke Rocktasche und zog
einen Taschenspiegel, eine Quaste und eine billige Puderdose hervor. Sie schminkte
sich hinreichend und öffnete die oberen Knöpfe ihrer Bluse. Mit fahrigen Bewegungen
zupfte sie an ihrem Unterhemd, bis der Graben zwischen ihren Brüsten deutlich zu
sehen war. Daraufhin bewegte sie die Schultern, erst nach rechts, dann nach links,
und vergewisserte sich, dass die Warzenvorhöfe sichtbar, die Brustwarzen selbst
aber bloß zu erahnen waren.
    Sie beugte
sich vor, um sich davon zu überzeugen, dass ihre Bauchpartie verdeckt war, falls
das Unterhemd verrutschte. Niemand sollte die Blutergüsse bemerken; sie würden die
Kunden nur abschrecken. Gregor, ihr Freund, schlug sie meist so, dass man die Verletzungen
nicht sah. Naiv und geistlos, wie sie war, liebte sie ihn in ihrer Unbedarftheit
sogar für diese Umsicht.
    Lene Kulm
betrachtete ihr Spiegelbild. Unmerklich nickte sie, als sie fand, dass ihr Aussehen
für diesen Abend seinen Zweck erfüllen würde.
    Nachdem
sie die Kneipe verlassen hatte, schlug sie den Weg zur Spree ein. Sie schlenderte
den Damm entlang, bis sie zum Friedrichswerder gelangte. Neben dem würfelförmigen
Gebäude der Bauakademie standen früher die Packhöfe und einige Bürgerhäuser, doch
Karl Friedrich Schinkel, der berühmte Architekt, hatte sie abreißen lassen. Im Lichtkreis
einer Laterne hielt Lene inne. Ihre Beine taten weh und sie rieb sich die Unterschenkel.
Links lag der Fluss mit seinen vertäuten Lastkähnen, rechts erhoben sich die Fassaden
einiger Mietshäuser, geradeaus erblickte die junge Frau die Akademie. Sie mochte
diesen modernen Stil nicht. Der viergeschossige Komplex mit seinen geometrisch angeordneten
Fenstern ließ sie an das Rastersystem amerikanischer Straßen denken. Sie war noch
nie aus Berlin herausgekommen, doch genau so kühl und unnahbar stellte sie sich
die fortschrittliche Neue Welt vor. Der einzige Grund, diesen Platz aufzusuchen,
war der Park, dessen Sträucher und Bäume ausreichend Schutz boten, damit Lene ihrer
Arbeit nachgehen konnte.
    Die Dämmerung
hatte eben erst eingesetzt und Lene spazierte den Damm auf und ab. Hin und wieder
warf sie einen Blick auf das ruhig fließende Gewässer. Sie war selten Stimmungen
unterworfen, aber an diesem Abend erwartete sie mit Ungeduld das Einbrechen der
Nacht. Viel zu viele Passanten waren noch unterwegs, viel zu viele Fenster an den
Backsteingebäuden noch erleuchtet.
    Eine Gruppe
junger Männer kam ihr entgegen – es mochten wohl Studenten sein. Sie waren ausgelassen
und pfiffen ihr nach. Einige Damen mit Krausen und Bordüren an ihrer eleganten Kleidung
flanierten vorbei und rümpften die Nase. Lene sah gleichgültig an sich hinab.
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