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Die Dunkelheit in den Bergen

Die Dunkelheit in den Bergen

Titel: Die Dunkelheit in den Bergen
Autoren: Silvio Huonder
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Monts auf. Er stand auf, hielt eine Kienfackel ins Feuer, bis sie brannte. Er würde die Wahrheit noch aus ihnen herauspressen, bis diese Wort für Wort wie Saft aus reifen Früchten tropfte. Niemand widerstand auf Dauer der Furcht vor Schmerzen.
    Mit der Fackel in der Hand wanderte er durch das Schloss seiner Eltern. Es wirkte kalt und schmutzig, Spinnweben hingen in allen Ecken, am Boden lag Mäusedreck, Staub lag auf den wenigen Möbeln von geringem Wert, die seine Eltern beim Umzug zurückgelassen hatten. Die meisten Räume waren leer. In seinem früheren Kinderzimmer lag etwas am Boden, das er zuerst für tote Mäuse hielt. Als er die Fackel senkte, sah er, dass es menschliche Exkremente waren. In früheren Zeiten hätte man den fünf Männern gleich hier und jetzt den Kopf abgeschlagen.
    Das Fenster war ein schwarzes Viereck, das keine Aussicht ins Tal preisgab. Er versuchte sich an seinen Abschied zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. Immer wieder drängten sich die Bilder seiner Reise in den Vordergrund, der Unfall mit der Kutsche, die Hinrichtung der heimatlosen Diebe. Er sah das Mädchen vor sich, wie es den Strick um den Hals gelegt bekam und nach vorn gestoßen wurde. Er hätte ihr wahrscheinlich helfen können. Er hätte etwas dagegen unternehmen können, hätte der Frau vom Pfarrhaus, die hinter ihm stand und ihre Hände auf seine Schultern gelegt hatte, dem Pfarrer, allen Leuten zurufen können, dass dieses Mädchen ihn ganz uneigennützig beschützt und mit Essen versorgt hatte, dass sie ihm das Leben gerettet hatte. Aber er tat nichts. Er schwieg und ließ es geschehen. Sie wurde vom Gerüst gestoßen, ihre Füße traten ins Leere, sie fiel, wurde mit einem Ruck gestoppt und blieb regungslos hängen. Der Strick hatte ihr dünnes Genick gebrochen.
    Nach seiner Rettung, als Heinrich wieder bei der Familie war, in seinem neuen Zuhause in Fürstenburg, erfuhr er, wie es zu dem Unfall gekommen war. Als die Kutsche auf der unterspülten Straße mit einem Rad eingebrochen war, wurde der Knecht Felix Caderas vom Bock geschleudert. Sein Glück war, dass es ihn auf die Böschung geworfen hatte und nicht in den Fluss. Zuerst wurde ihm die Schuld an dem Unfall aufgebürdet. Onna Balugna war damals wohl ertrunken, aber nie gefunden worden. Das Pferd hatte sich ans Ufer retten können, vom Einspänner waren nur noch die abgebrochenen Holme übrig geblieben. Erst später war das Ausmaß der Verwüstungen bekannt geworden, die das Unwetter verursacht hatte. Auf eine Bestrafung wurde deshalb verzichtet, aber der Knecht wurde aus den Diensten entlassen und nach Graubünden zurückgeschickt.
    Zehn Jahre war der Baron damals, heute dreiunddreißig. Hatten sich die Zeiten geändert? Nicht viel. Nun war er es, der mit Härte gegen das Lumpengesindel vorging. Es waren erbarmungswürdige Kreaturen, aber Gesetz war Gesetz. Das Gesetz verlor seine Kraft, wenn es nach Gutdünken und um der Barmherzigkeit willen aufgeweicht würde. Um die Armen mussten sich andere kümmern. Es gab genug ehrenwerte Männer, die sich ihrer annahmen. Johann Heinrich Pestalozzi opferte sich für die Armen auf. Er leitete eine Schule am Neuenburger See. Solche Männer waren auch wichtig. Sie trugen ebenfalls dazu bei, den finsteren Zeiten zu entrinnen. Jeder hatte seine Aufgabe. Seine war das Gesetz. Justitia hatte eine Waage in der einen, ein Schwert in der anderen Hand. Ihre Augen waren verbunden. Ihr Mitleid und ihr Erbarmen sollten das Urteil nicht trüben. Die Hungrigen wurden aufgeknüpft, und er selbst hatte dabei zugesehen ohne aufzubegehren. Hätten die Leute einem zehnjährigen Jungen überhaupt zugehört?
    80 Im Morgengrauen wurden die fünf Gefangenen in das vergitterte Abteil der Karosse gequetscht. Die Reise führte über Sagogn, Laax, vorbei an den Waldhäusern von Flims, an der Trinser Mühle, über Trin, Tamins, Reichenau und Ems zurück nach Chur und dauerte den ganzen Tag. Unter der strengen Bewachung von Hostetter und Rauch durften die Männer mittags aussteigen und im Flimser Wald ihre Notdurft verrichten. Zweimal wurde ihnen Wasser gereicht. Am Abend des 26. Juli traf der Transport im Sennhof in Chur ein. Das vergitterte Abteil musste danach mit mehreren Eimern Wasser ausgespült werden, weil sich einer der Männer auf der Fahrt übergeben hatte.
    Franz Rimmel, der von der Wache über die Verhaftung der Brüder Bonadurer unterrichtet wurde, verlangte, eine neue Aussage zu machen. Dem Verhörrichter gestand er in der Zelle,
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