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Die Dunkelheit in den Bergen

Die Dunkelheit in den Bergen

Titel: Die Dunkelheit in den Bergen
Autoren: Silvio Huonder
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forttrug. Heinrich war umringt von stummen Menschen mit feindseligen Gesichtern. Seine Hose und das zerrissene Leibchen waren nass und schmutzig. Genau wie sein Gesicht und seine Haare. Er wurde herumgeschubst, bis er vor einem Mann in schwarzem Mantel stand.
    Wie heißt du?, fragte dieser auf Hochdeutsch.
    Heinrich.
    Aus der Grube klangen noch die Schreie des Mädchens.
    Nur Heinrich?, fragte der Mann.
    Johann Heinrich von Mont.
    Ein Gemurmel hob unter den Leuten an.
    Woher kommst du?
    Vom Schloss Löwenberg.
    Das Gemurmel wurde unruhiger.
    Und wo steht das Schloss Löwenberg?
    In Schleuis, sagte er und fügte hinzu: Ich muss nach Fürstenburg ins Gymnasium.
    Ja wie kommst du in Gottes Namen an dieses Gesindel?
    Unsere Kutsche ist in den Fluss gestürzt, ins Wasser.
    Das Gemurmel wurde zum aufgeregten Durcheinander. Die Leute bekreuzigten sich, schauten zum Himmel und fingen an zu beten.
    Heinrich wurde beim Pfarrer aufgenommen, gewaschen, gefüttert und neu eingekleidet. Er musste mehrere Male erzählen, was mit der Kutsche geschehen war, woher er kam, wohin er wollte. Als würden sie ihm nicht glauben. Dann wurde ein Bote losgeschickt, der den Unfall der Obrigkeit meldete und damit eine Suche auslöste. Nachts lag Heinrich wach in einer Kammer, in sauberer Bettwäsche, und konnte nicht schlafen. Er lauschte in die Dunkelheit, aber draußen war nichts zu hören.
    Am nächsten Tag ging der Pfarrer mit ihm vor die Ortschaft hinaus. Neben der Grube war ein grobes Holzgerüst aufgebaut. Die Leute aus dem Dorf schauten zu, wie die mageren Gestalten aus der Grube geholt und zum Holzgerüst getrieben wurden. Der Pfarrer las mit lauter Stimme aus der Bibel vor. Von einem Querbalken hingen drei Stricke herunter, mit Schlaufen an den Enden. Niemand wehrte sich, als die Männer ihnen die Schlaufen über den Kopf streiften und sie in den Rücken stießen. Sie machten einen Schritt, als ob sie vom Holzgerüst auf die Wiese springen wollten, hingen mit einem Ruck in der Luft fest und schwangen dann mit den Füßen über dem Boden. Manche zappelten und zuckten heftig, bis sie ruhig hingen. Die Frau, die im Pfarrhaus arbeitete, stand hinter Heinrich und hatte ihre Hände auf seine Schultern gelegt.
    Diebe sind das, raunte sie hinter ihm, gottlos und böse.
    Er sah, wie dem Mädchen der Strick über den Kopf gelegt wurde. Sie hatte die Augen geschlossen und bewegte die Lippen, als würde sie zu jemandem sprechen. Dann wurde sie nach vorn gestoßen, sie fiel, es gab einen Ruck, und sie hing still.
    Nach vier Tagen wurde Heinrich von seinem Vater abgeholt und nach Fürstenburg gebracht, wo die Familie von nun an wohnte.
    79 Baron von Mont verbrachte die Nacht mit Hostetter und Rauch und den fünf Gefangenen im Schloss. Das Feuer im Kamin des Hauptsaals wurde die ganze Nacht über wachgehalten. Die Pferde waren im Stall untergebracht worden. Das Heu war uralt und staubig, aber sie fraßen es trotzdem. Fidel Caprez ging mit seinen Männern ins Dorf zurück. Auf Wunsch des Barons ließen sie ihm mehrere Laternen und Fackeln zurück. Außerdem versprachen sie, Verpflegung ins Schloss zu bringen.
    Der Baron waltete seines Amtes und nutzte die Gelegenheit, die Brüder Bonadurer einzeln einem ersten Verhör zu unterziehen. Der Ältere gab den geplanten Diebstahl von einem Sack Reis gleich zu und zeigte Reue. Sie seien zu spät gekommen, um Rimmel an seinem Verbrechen zu hindern. Der Jüngere, Hans Bonadurer, erwies sich als verstockt und behauptete trotz einiger Schläge ins Gesicht, die ihm Hostetter mit dem Handrücken verpasste, an jenem Abend nur zufällig in der Weihermühle gewesen zu sein. Von dem geplanten Diebstahl wollte er nichts gewusst haben. Als der Baron ihm die Aussage seines älteren Bruders vorhielt, gab der Jüngere an, sich nicht mehr an eine solche Verabredung erinnern zu können. Jedenfalls hätten sie mit den Morden nichts zu tun, und gestohlen hätten sie auch nichts.
    Im Sennhof in Chur, sagte der Baron sichtlich verärgert, wird es noch andere Mittel geben, euch zum Reden zu bringen.
    Die Brüder wurden zu den anderen Gefangenen in den Keller gesperrt. Hostetter und Rauch hielten abwechselnd Wache.
    Der Baron saß im Saal und starrte ins Feuer.
    Das war nicht, was er sich wünschte: Widersprüchliche Aussagen, verschwommene Halbwahrheiten, sein Elternhaus verwahrlost und dem Pöbel preisgegeben. An der dunklen Wand über dem Kamin, wohin der Schein des Feuers nicht fiel, bäumte sich das Einhorn im Wappen der von
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