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Die drei Lichter der kleinen Veronika

Die drei Lichter der kleinen Veronika

Titel: Die drei Lichter der kleinen Veronika
Autoren: Manfred Kyber
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am Weg verirrt. Sie darf die Bürde nicht tragen, die sie auf sich nehmen will, es ist gegen ihre Bestimmung.«
    Im Gesicht des Meisters waren Verstehen und Güte, und beide waren unendlich groß.
    »Es ist nicht wesentlich«, sagte er, »es ist ein Rest in ihr von der kleinen Madeleine Michaille, der sich noch lösen muß. Ihre Liebe in jener Zeit nahm ein zu schnelles und schreckliches Ende.«
    »Vielleicht ist es eine Jugendtorheit, die heute kommt und morgen geht«, meinte Johannes Wanderer, »es mag sein, daß ihr eine andere Seele bestimmt ist, wenn sich ihr rotes Licht wieder entzündet. Sie ist noch so sehr jung.«
    »Das ist es nicht«, sagte der Meister, »sie hat nicht viele nahe Seelen auf dieser Welt. Sie ist weit gewandert und das Gewebe ihres Schicksals ist entwirrt. Sie wird sich an keinen anderen schließen, und es ist ihr dieses Mal auch kein langer Weg auf der Erde bestimmt. Nur den Rest der kleinen Michaille muß sie überwinden. Auch ihr rotes Licht soll im Feinstofflichen leuchten, dann ist sie rein und reif für den Gral. Es ist dies nötig, denn der Gral braucht alle seine Streiter. Nur darf sie die Bürde, die noch zu tragen ist, nicht schwerer auf sich laden, als sie ist. Sonst geht sie in die Irre.«
    »Ich würde ihr gern diese Bürde tragen helfen«, sagte Johannes Wanderer, »auch Aron Mendel trug seine Last mit Freuden für die kleine Rahel.«
    »Man kann nicht alle Bürden für andere tragen«, sagte der Meister, »es ist gegen das Gesetz. Aber hier kannst du vieles leichter machen, wenn du es willst.«
    »Ich will alles, wenn es für Veronika gut ist«, sagte Johannes Wanderer.
    »Es ist dies so«, sagte der Meister, »daß wir diese Bürde von ihr nehmen und auf deine Schultern legen können. Aber es wird keine leichte Last für dich werden. Willst du das?«
    »Ja«, sagte Johannes Wanderer, »ich will alles für Veronika.«
    »Wir werden das tun«, sagte der Meister, »hilf ihr und wir werden dir helfen.«
    Dann schied der Meister von ihm. Wie er kommt und wie er geht – wer vermag das zu sagen? Es sind dies geheimnisvolle Dinge, die sich im Ring der Brüder vom Gral begeben, und sie geschehen da, wo sich diese und jene Welt verschwistern. Man kann sie nur mit einfachen Worten erzählen, weil sie sehr groß sind.
    Johannes Wanderer blieb allein zurück. Es war eine einsame und stille Nacht, die er durchwachte, und vor ihm, auf dem schmucklosen Tisch, brannten die Kerzen als ein Bildnis von den drei Lichtern der kleinen Veronika.
    Man kann es nicht sagen, daß die kleine Veronika gestorben wäre. Es war dies anders, als es sonst vielleicht bei den Menschen geschieht. Leben und Sterben sind so sehr verschieden bei den Seelen, die auf dieser Erde wandeln.
    Es ist eine Ferne, die war, von der wir kommen.
    Es ist eine Ferne, die sein wird, zu der wir wandern.
    Und doch ist alle Ferne nahe, wenn man es recht begreift.
    Es war so, daß die kleine Veronika müde wurde und allmählich einschlief in dieser Welt. In dieser Welt einschlafen aber bedeutet, daß man in einer anderen Welt erwacht. Man kann es auch eigentlich nicht sagen, daß Veronika krank war, jedenfalls war es nicht merklich, wie es sonst der Fall ist. Der Winter verging, der Frühling und der Sommer blühten auf, und die kleine Veronika wurde immer müder und müder. Aber sie litt nicht unter dieser Müdigkeit. Es litten nur die anderen darunter, und es war um diese Zeit ein großes Schweigen im Hause der Schatten.
    Der Herbst kam, und im Garten fielen die Blätter.
    Da geschah es, daß der Engel zur kleinen Veronika ins Zimmer trat, als sie im Bett lag.
    »Es ist Morgen geworden, Veronika«, sagte er.
    Veronika stand auf, und es war ihr kaum noch fühlbar, daß sie ihren Körper verließ. Sie war dem Kleid der Erde entwachsen, und der Gral geleitet die Seelen gnädig, die er ruft.
    Magister Mützchen stand dabei mit dem roten Hut in der Hand, und Tränen liefen ihm über die Wangen. Es ist sehr selten, daß diese Wesen weinen.
    »Muß ich allein zurückbleiben im Hause der Schatten?« fragte er.
    Der Engel sah ihn an.
    »Es ist ein wenig früh für dich, Magister Mützchen«, sagte er, »aber du hast geweint. Tränen sind der Zoll für den Garten Gottes. Komm mit.«
    Da lief Magister Mützchen auf seinen dünnen Beinen eilig neben dem Engel und Veronika her, als sie zusammen aus dem Hause der Schatten hinausgingen. Hoch über ihnen hielt der Engel den Leuchter mit den drei Lichtern der kleinen Veronika, und das goldene Licht
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