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Die Dichterin von Aquitanien

Titel: Die Dichterin von Aquitanien
Autoren: Tereza Vanek
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liegt hinter mir, und die meisten Menschen würden es weder als erfolgreich noch als gottgefällig bezeichnen. Aber du bist ein junges Mädchen, Marie. Für dich gelten andere Regeln. Wenn du eine Kreatur Satans, den Werwolf, als liebenswürdig
beschreibst, dann bringst du nicht nur den Dorfpfarrer gegen dich auf. Frauen werden in diesen Dingen strenger beurteilt, weil sie die Töchter Evas sind.«
    Marie setzte zum Widerspruch an, doch Guillaume erhob die Hände.
    »Bitte, erspare mir deine Empörung. Es ist alles meine Schuld. Ich habe dich nicht wie eine Frau erzogen, aber du musst trotzdem als solche leben. Es wird Zeit, dass du dich weiblichen Aufgaben widmest, anstatt immer nur das Schreiben zu üben und mich als Geschichtenerzähler nachzuahmen.«
    Ein Feuer begann in Marie zu lodern, drang in jeden Winkel ihres Bewusstseins und verbrannte den letzten Rest an Vorsicht. Es war zu viel gewesen an einem Tag. Der Tod von Adèle und nun Guillaumes Sinneswandel. Mit einer heftigen Handbewegung fegte sie ihren Becher vom Tisch.
    »Ich ahme dich nicht nach, ich erfinde meine eigenen Geschichten. Wahrscheinlich gefällt gerade das dir nicht. Du hast Angst, ich könnte besser werden als du.«
    Guillaume seufzte nur.
    »Der Dorfpfarrer hatte recht. Ich habe dich falsch erzogen. Kein Mädchen im Dorf würde es wagen, so mit seinem Vater zu reden. Du musst lernen, dich wie eine Frau zu verhalten, sonst wird dein Leben sehr schwierig sein.«
    Er hatte nicht zornig geklungen, nur niedergeschlagen. Doch Marie kam nicht gegen jene Wut an, die in ihr aufgeflammt war.
    »Wenn du willst, dass ich mich wie eine Frau benehme, dann lerne erst einmal, selbst ein Mann zu sein«, schrie sie ihn an. »Benimm dich wie ein Mann und richte das Dach! Pierres Vater hätte es schon längst getan.«
    Sie sprang auf und entzog sich weiteren Auseinandersetzungen, indem sie in ihre Kammer lief, einem winzigen, nur
mit Holz umzäunten Raum, in dem eine Strohmatte lag. Marie entfernte die Stofffetzen von ihren Füßen und streckte sich aus. Sie wollte in den Schlaf flüchten, aber er mied sie. Die Scham, ihren Ziehvater verletzt zu haben, saß wie ein Stachel in ihrer Brust. Guillaume hatte recht gehabt. Nicht nur ein Mädchen, sondern auch ein Junge wie Pierre hätte die Rute zu spüren bekommen, wenn er seinen Vater derart beleidigte, wie sie es gerade eben bei Guillaume getan hatte.
    Aber Guillaume erhob niemals seine Hand gegen sie.
    Am nächsten Morgen, wenn ihrer beider Gemüter sich beruhigt hatten, würde sie ihm sagen, dass sie tausendmal lieber in seiner Obhut lebte als bei Pierres Vater, dem Schmied, der dank seines Geschicks, das selbst Kundschaft aus Paris anlockte, der wohlhabendste Mann des Dorfes war, aber jedes Familienmitglied ohrfeigte, das sich erdreistete, ihm zu widersprechen. Dieser Entschluss schenkte ihr Erleichterung, machte es möglich, nach diesem grauenhaften Tag in das Reich der Träume zu sinken.
     
    Drängendes Winseln erklang, als Marie im Schloss der schönen Dame Einlass gefunden hatte und sich ehrfurchtsvoll vor ihr verneigte. Sie wollte um Adèles Begnadigung bitten und suchte nach den richtigen Worten, doch das blasse, stolze Gesicht verschwamm, anstatt klare Formen anzunehmen. Irgendwann umgab sie nur noch graue Leere, während die Klagelaute immer deutlicher wurden. Sie schlug die Augen auf, musterte die Holzbalken an der Decke. Langsam drang die unschöne Wirklichkeit in ihr Bewusstsein. Von dem prächtigen Palast hatte sie nur geträumt, sie befand sich weiterhin in ihrem Zuhause und Adèle war bereits tot. Schnell wollte sie wieder in das tröstende Dunkel des Schlafs flüchten, doch Abélards Winseln machte es ihr unmöglich.

    »Schon gut, du bekommst bald dein Morgenmahl«, rief sie dem Hund durch die geschlossene Tür zu. Abélard verstummte für einen Augenblick, sodass nur noch das eintönige, heftige Prasseln des Regens an Maries Ohr drang. Sie zwang sich, sogleich aufzustehen. Guillaume war sicher noch damit beschäftigt, seinen Rausch auszuschlafen, und würde erst aufwachen, wenn das Wasser bis zu seinen Ohren reichte.
    Sie wickelte die Lappen wieder um ihre Füße. Die alten Holzschuhe hatte sie vor Jahren einem Bettelmädchen geschenkt, und Guillaume hatte das Geld des geheimnisvollen Verwandten ihres Vaters in letzter Zeit dazu verwendet, sich nach zerschlissenen und daher günstig angebotenen Büchern und Schriftrollen umzusehen, wenn er nach Paris aufgebrochen war. Dass Marie keine Schuhe
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