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Die Dichterin von Aquitanien

Titel: Die Dichterin von Aquitanien
Autoren: Tereza Vanek
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Irgendwann kämen die beiden wieder heraus, und es widerstrebte ihr, vor jenem Mann, dem sie verhasst war, wie ein klägliches Häufchen Elend dazusitzen.
    Aber vermutlich hatte der Pfarrer recht. Sie war ein schlechtes, von Grund auf verdorbenes Mädchen, das durch seine frechen Reden den einzigen Menschen, der sie wirklich liebte, in den Tod getrieben hatte. Ihre Hände schossen in die Höhe, und sie kratzte mit den Nägeln ihre Wangen auf, um den rasenden Schmerz in ihrem Inneren durch einen anderen zu betäuben, der erträglicher war. Pierres Griff legte sich um ihre Handgelenke und hielt sie eisern fest.

    »Nun hör doch auf, Marie!«, rief er. »Du hast nichts Schlimmes getan, ihn nur aufgefordert, das Dach zu richten. Das war doch wirklich nötig.«
    Marie wollte widersprechen, doch abermals brach sie in Tränen aus. Sie schnappte nach Luft, schluckte und japste kläglich, während Pierre seine Arme tröstend um ihre Schultern legte.
    »Ich habe ihn dazu herausgefordert, verstehst du?«, stieß sie schließlich hervor. »Er war gekränkt, deshalb wollte er sogleich das Dach richten, obwohl es dunkel war und er getrunken hatte.«
    »Er tat es, weil er völlig betrunken war«, widersprach Pierre. »Er konnte nicht mehr klar denken, sonst hätte er bis zum nächsten Morgen gewartet.«
    Marie senkte den Kopf. Guillaume hatte stets zu sprunghaftem, launischem Verhalten geneigt, aber eben dies hätte sie wissen müssen.
    Die Tür der Kammer öffnete sich knarrend. Marie richtete ihren Blick entschlossen auf die beiden Männer, obwohl sie Angst vor deren Botschaft hatte.
    »Er lebt«, erklärte der Mönch. »Aber er ist nicht bei Bewusstsein. Die Verletzung an seinem Kopf war schwer. Ich habe ihn verbunden und ihn auch zur Ader gelassen, um seine Körpersäfte in Ordnung zu bringen. Durch den Sturz ist sein Blut vielleicht geschädigt worden.«
    Marie stand auf und lief los, um den Beutel mit den Münzen zu holen. Ein Aderlass war sicher nicht billig, aber wenn er Guillaume geholfen hatte, war sie gern bereit, den letzten Rest der Summe, die der Verwandte ihres Vaters gebracht hatte, herzugeben. Der Mönch steckte seinen Lohn zufrieden ein.
    »Du musst beten, Marie«, meinte der Pfarrer mit einem strengen Blick. »Um die Vergebung deiner Sünden bitten
und Besserung geloben, damit Gott der Herr Erbarmen mit deinem Vater hat.«
    Marie nickte. Alle Lust auf Widerspruch war ihr vergangen, sie wollte mit Freude jenes gottgefällige Mädchen sein, das der Pfarrer sich wünschte, wenn ihr dadurch Guillaume erhalten blieb.
    »Sieh regelmäßig nach ihm«, fuhr der Mönch fort. »Er kann in jedem Augenblick wieder zu sich kommen. Sollten unsere Gebete unerhört bleiben, dann wende dich an den Pfarrer.«
    Beide Herren verabschiedeten sich. Pierre saß noch eine Weile an Maries Seite, umarmte und streichelte sie, doch schien er dabei immer unruhiger zu werden.
    »Ich weiß, dass dein Vater auf dich wartet«, sagte sie schließlich. »Geh jetzt heim! Ich würde mich freuen, wenn du wiederkommst, sobald es möglich ist.«
    Pierre löste sich mit niedergeschlagenem Blick von ihr. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass er ein ansehnlicher Junge war mit seinem breiten, ehrlichen Gesicht, der hohen Gestalt und dem dichten, haselnussfarbenen Haar. Zwar sehnte sie sich heftiger nach seiner Nähe als jemals zuvor, aber sie wusste, dass sie ihn gehen lassen musste, damit er zu Hause keine Prügel bezog. Er versprach, am nächsten Tag nach ihr zu sehen, dann fiel auch hinter ihm die Tür zu. Marie vergrub ihr Gesicht in Abélards Fell, sog die Wärme seines Körpers in sich auf. Cleopatra landete auf ihrer Schulter. Die Anwesenheit von Fremden hatte sie verunsichert, doch nun knabberte sie zufrieden an Maries Ohrläppchen.
    Marie wurde bewusst, dass sie außer diesen Tieren niemanden mehr auf der Welt hätte, falls Guillaume starb. Sie stand auf und ging in die Kammer, wo er auf seiner Strohmatte lag. Der Mönch hatte ein Tuch um seinen Kopf gewickelt, an dem das Blut langsam zu trocknen begann. Marie beugte
sich zu der leblosen Gestalt und legte ihren Kopf auf seine Brust. Der schwache, aber regelmäßige Schlag seines Herzens drang beruhigend an ihr Ohr.
    »Verzeih mir, wie frech ich so oft zu dir gewesen bin«, flüsterte sie leise. »Und bitte, bitte verlass mich nicht.«
     
    Als es Mittag wurde, hörte Marie ihren Magen knurren. Sie grub ein paar Rüben aus der Erde, durchsuchte die Vorratskammer nach dem letzten Rest von gepökeltem
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