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Die Dichterin von Aquitanien

Titel: Die Dichterin von Aquitanien
Autoren: Tereza Vanek
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Prolog
    1152
     
E s war ein grauer Märztag. Die Wolken hingen tief über den Dächern des Dorfs, andauernder Regen hatte den letzten Schnee fortgeschwemmt, die Erde in schwammigen, dreckigen Brei verwandelt. Schweine und Hunde wühlten darin herum. Marie watete mühsam durch den Schmutz, der ihr fast bis zu den Waden reichte. Vor zwei Monaten war sie vier geworden und ihre Füße mussten sich ebenso plötzlich verlängert haben, wie die Zahl ihrer Lebensjahre sich erhöht hatte. Ihre hölzernen Schuhe hatte ihr Ziehvater Guillaume im vorigen Sommer aus Paris mitgebracht. Sie zwängten bereits ihre Zehen ein, sodass jeder Schritt sich anfühlte wie ein Tritt gegen die Klinge eines Messers. Glücklicherweise war es nicht mehr weit bis zum Brunnen, doch würde der Rückweg mit einem hoffentlich wenigstens halb vollen Eimer noch anstrengender werden. Guillaume war wieder einmal angetrunken vom gestrigen Dorffest gekommen und hatte das Fass umgeworfen, in dem Regenwasser aufgefangen werden sollte. Marie wusste, dass seine Kehle durstig brennen würde, sobald er aufwachte. Agnès, die gelegentlich aushalf, um die wuchernde Unordnung einzudämmen, hatte nur mit den Schultern gezuckt.
    »Soll der Schwätzer doch aus seinen Fehlern lernen!«
    Aber Marie mochte es nicht, wenn Guillaume schlechter Laune war.
    Sie nickte den Dorfbewohnern zu und ging entschlossen
weiter, auch wenn nicht alle ihren Gruß erwiderten. In ihrem Rücken summte das übliche Getuschel. Sie hatte bereits gelernt, ihre Ohren davor zu verschließen. Pierre, der Sohn des Schmieds, lächelte sie freundlich an, und der Anblick seines vertrauten Gesichts wärmte ihr Herz. Nicht alle Menschen hier dachten schlecht von ihr.
    Glücklicherweise stand niemand vor dem Brunnen, sodass sie nicht warten musste. Marie stieg auf einen Stein, befestigte den Henkel des Eimers am Seil und ließ das Gefäß in die schwarze Tiefe fahren. Kurz darauf krallten ihre Finger sich entschlossen um den hölzernen Hebel, damit das Seil um die Winde gewickelt und so der Eimer wieder nach oben befördert werden konnte. Da sie selbst für ihr Alter recht klein war, musste sie dabei die Arme hochstrecken. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen im Dorf hatte sie keine von harter Arbeit gestählten Muskeln. Sie musste nur selten im Haushalt helfen, denn Guillaume hielt das für unwichtig. Schmutz oder Unordnung würde er erst bemerken, wenn er darüber stolperte und dann auch noch mit dem Gesicht hineinfiel, wie Agnès immer wieder anmerkte. Stattdessen hatte er vor Kurzem begonnen, Marie im Lesen und Schreiben zu unterweisen, sodass sie ihre Zeit über eine Schiefertafel gebeugt zubrachte. Diese Tätigkeit gefiel ihr, befähigte sie aber nicht unbedingt, Eimer aus tiefen Brunnen zu ziehen. Marie stöhnte laut, als das hölzerne Gefäß endlich den Brunnenrand erreicht hatte. Ihre Handflächen brannten vom Druck des Hebels. Das glatte, feuchte Holz entglitt ihr, sobald sie es über den Brunnenrand hieven wollte. Zum Glück schwappte nicht alles Wasser wieder in die Tiefe. Keuchend vor Erschöpfung stellte Marie schließlich einen nicht ganz halb vollen Eimer neben sich in den Schlamm. Ihre Arme fühlten sich an, als würden sie jeden Moment abfallen.

    »Da kommen Leute!«, erklang es in ihrem Rücken. Sie wandte sich um.
    Auf der platt getretenen Straße rückten tatsächlich Gestalten heran. Marie erblickte drei Reiter und im Hintergrund weitere Umrisse, die ein Gefolge andeuteten. Es kam gelegentlich vor, dass Händler in Huguet, dem winzigen, verschlafenen Dorf im Umland von Paris, haltmachten, doch die hatten nur Esel und Karren. Bei diesen Männern musste es sich um Ritter handeln, jene Helden und Abenteurer, von denen Guillaume ihr oft erzählt hatte. Nun ritten sie in Maries Leben hinein. Die anderen Anwohner drängten sich verunsichert an Hauswände, aber Marie blieb wie angewurzelt stehen. Die Geschichten ihres Ziehvaters bekamen plötzlich Farbe. Die duftende, bunte Weite der Welt rückte näher heran.
    Die Reiter trugen dunkle, wollene Umhänge, die sie vor der Unwirtlichkeit des Wetters schützten. In ihrer Mitte saß eine etwas kleinere Gestalt mit schmalen Schultern auf einem weißen Pferd, an dessen Zaumzeug farbenfroh verzierte Glocken bimmelten. Sie war ebenfalls eingemummt, doch als sich das Gesicht unter der Kapuze seiner Umgebung zuwandte, erstarrte Marie vor Staunen. Guillaumes Beschreibungen von Feen und zauberhaft schönen Damen erblühten in ihrem
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